Seit Wochen gibt es eigentlich nur noch zwei Themen in den Nachrichten: Brutalität von radikalen Klein- und Splittergruppen in der halben Welt und Flüchtlinge in Europa. Genauer betrachtet sind das natürlich nur die beiden Seiten des gleichen Problems. Denn die Flüchtlinge kommen ja gerade, weil sie zuhause solche Gewalt erleben müssen und von den radikalen Gruppen verfolgt werden. Imho gilt das nicht nur für Syrer. Seit etwa einer Woche kann ich morgens immerhin nicht mehr nur die Nachrichten von angezündeten Flüchtlingsunterkünften, auf der Flucht gestorbenen Menschen, Schleppern, Nazis, Rassisten, Brutlität, Gewalt, Zerstörung und Verderben lesen. Denn seit ein paar Tagen passieren Dinge, die mir wenigstens etwas Mut geben, dass die Menschen in Europa nach zwei brutalen Kriegen verstanden haben, dass sie Frieden nicht haben können, wenn sie Menschengruppen marginalisieren und ausgrenzen. Dass nicht Hass sondern Solidarität und Mitgefühl dazu führen, dass wir in einer besseren Gesellschaft leben können. Seit ein paar Tagen sind meine Nachrichten nicht mehr nur voll von Entsetzen und Hilflosigkeit und “warum tut denn niemand was” sondern voller Hilfs- und Schutzangeboten für Flüchtlinge. Natürlich sind die anderen Nachrichten auch noch da, aber ich habe doch wieder etwas Hoffnung geschöpft, dass die guten Menschen nicht nur in der Überzahl sind, sondern es doch einmal schaffen können, sich durch zu setzen.
Meiner Meinung nach gibt es in diesem Zusammenhang zwei wichtige Punkte: Zum einen sind da die Menschen, die sich vor Flüchtlingsunterkünfte stellen, wenn diese angegriffen werden; die Menschen, die Hilfsgüter sammeln und weitergeben wie beispielsweise vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin; die unglaubliche Zahl an Menschen, die in Wien die aus Budapest ankommenden Flüchtlinge begrüßt und versorgt. Und zum anderen sind da die Menschen, die öffentlich darüber reflektieren, wie es ist Flüchtling zu sein, die in unglaublich vielen Berichten daran erinnern, dass auch in Deutschland vor nicht all zu langer Zeit viele Menschen fliehen mussten, die darauf hin weisen, wie wichtig es ist menschlich zu bleiben und zu verstehen, dass es hier immer noch um Menschen geht. (Links zum Thema hat beispielsweise Maximilian Buddenbohm hier, hier, hier und hier gesammelt. Ich weiß auch nicht wie es kommt, dass ich immer auf ihn verlinke, wenn es um informative Linksammlungen geht.) Diese beiden Gruppen zusammen (die Hilfsbereiten und die Nachdenklichen, wenn man so möchte) zeigen mir, dass es in Europa genug Menschen gibt, die sich mehr Menschlichkeit für alle wünschen. Die eine Idee von Europa haben, das mehr ist, als eine reine Wirtschaftsunion. Die für Hilfsbereitschaft, Solidarität und Für-einander-Einstehen sind.
Dem gegenüber stehen irgendwie die europäischen Politiker, die insgesamt den Eindruck vermitteln, in einer völligen Schockstarre gefangen zu sein. Die Angst zu haben scheinen, dass irgendetwas Schlimmes passiert, wenn sie anfangen zu handeln. Die darauf hoffen, dass abwarten oder gar blockieren etwas bringen könnte. @amina_you hat so zusammengefasst:
In einer Welt, in der jeden Tag Menschen so massiv bedroht, gefoltert und ermordet werden, ist es nicht verwunderlich, wenn die Menschen fliehen. Und natürlich fliehen sie nach Europa. Hier ist es sicher. Wir leben in der längsten Friedensperiode, die es hier je gab. Wir haben unglaublichen Wohlstand – auch wenn der manchmal ziemlich ungleich verteilt ist. Niemand wird irgendjemanden aufhalten können, hier her zu kommen. Zumindest nicht, solange die Menschen in ihrer Heimat keine Perspektive für sich mehr sehen. – Mir persönlich reichen die paar Albträume von Verfolgung, Bedrohung, Angst und Gefährdung, nach denen ich nicht mehr einschlafen konnte völlig aus, um Mitgefühl zu haben.
Die aktuellen Probleme – und dabei ist es egal, ob es sich um Flüchtlinge oder Schuldenprobleme handelt – können die europäischen Staaten meiner Meinung nach nur gemeinsam lösen. Wenn nicht die einen für die anderen einstehen, meinetwegen mit Murren, aber doch aus Solidarität, dann wird ein einiges Europa noch mehr zerbrechen anstatt weiter zusammen zu wachsen. Ich persönlich halte das für eine falsche und gefährliche Entwicklung. Deshalb glaube ich schon seit längerem, dass es wichtig ist, das Bewusstsein dafür zu stärken, dass Europa genug Gemeinsamkeiten hat, um zusammen zu halten. Ich meine beobachten zu können, dass die meisten normalen Menschen genug Solidarität für andere Europäer und für Flüchtlinge aufbringen. Ich denke, es gibt genug Menschen, die zwar einerseits über seltsame EU-Verordnungen murren, aber andererseits doch eine gemeinsame Währung und offene Grenzen praktisch finden. Und die vielleicht Verständnis dafür aufbringen könnten, dass für diese Freiheit auch notwendig ist, dass man eine gemeinsame Politik macht.
Mich wundert nicht, das in Budapest und Wien vor den Regelungen von Dublin II kapituliert wird. Wie ungerecht ist diese Regelung, wo doch die meisten reichen europäischen Staaten keine EU-Außengrenzen haben, über die Flüchtlinge kommen. Und ich finde, es zeugt ganz deutlich von europäischer Solidarität, wenn Bürger in Wien, München und Dresden dafür sorgen, dass die Flüchtlinge willkommen geheißen werden, wenn sie anderswo nicht willkommen sind und die Politik vor solchen Problemen versagt.
Ich glaube, es wäre wünschenswert, wenn wir, die normalen Menschen, überall in Europa darüber nachdenken und öffentlich sprechen, warum wir für Solidarität und Mitgefühl sind. Wir sollten darüber schreiben, was unsere Idee von Europa ist, was wir von Europa erwarten und für Europa tun wollen. Ich wünschte es gäbe ein über-europäisches Medium. Ich möchte Berichte von belgischen, bulgarischen, dänischen, deutschen, estnischen, finnischen, französischen, griechischen, großbritannischen, irischen, italienischen, kroatischen, lettischen, litauischen, luxemburgischen, maltesischen, niederländischen, österreichischen, polnischen, portugiesischen, rumänischen, schwedischen, slowenischen, slowakischen, spanischen, tschechischen, ungarischen, zypriotischen Bürgern lesen. Ich möchte wissen, wie sie über die Europäische Union denken, wie sie leben, was sie fühlen, woran sie glauben, was sie brauchen und wie sie helfen können. Ich träume von einer Zeitung oder einem Blog, in dem diese Menschen schreiben können, in dem ihre Texte übersetzt werden – mindestens ins Englische, aber in meinem Traum in alle Sprachen der EU. Ich möchte, dass die europäische Vielstimmigkeit ein Forum bekommen kann. Eines, in dem diese Vielstimmigkeit positiv gesehen wird und als Vorteil. Möchte jemand mit mir ein solches Projekt aufziehen? Habt ihr Freunde im europäischen Ausland, die mitschreiben würden? Kennt ihr Leute, die Texte übersetzen können oder könnte es selbst? Wer kann eine Seite bauen? Wer sie hosten? Wer möchte sich an der Redaktion beteiligen?
Haben überhaupt andere Leute als ich Interesse an einer solchen Aktion?