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Litlog

Die Germanistik der Uni Göttingen hat ein lobenswertes Projekt ins Leben gerufen: Ein halbwissenschaftliches Blog zu kulturwissenschaftlichen Themen. Denn: kulturwissenschaftliche Themen sind im Internet kaum vertreten. Kulturellen Themen begegnen wir allerdings an allen Ecken und Enden. Da wird es durchaus Zeit, dass sich Wissenschaftler mal an den eigenen Haaren packen und selbst aus dem Sumpf des Nichtgesehenwerdens herausziehen. Immerhin wird in den Geisteswissenschaften jede Menge gesellschaftlich relevanten Wissens produziert.

Litlog ist eines solcher Projekte. Ein Internetfeuilleton, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der Literatur:

Litlog ist ein studentisches eMagazin, gegründet am Seminar für Deutsche Philologie der Georg-August-Universität Göttingen, das sich den praktizierten Dialog zwischen Wissenschaft und Kultur zum Ziel gesetzt hat. Das Spektrum dieses Dialogs reicht von kulturanalytischen Essays über literaturkritische Beiträge und Berichte zum literarischen wie kulturellen Leben, insbesondere in Göttingen, bis hin zu wissenschaftsjournalistischen und genuin wissenschaftlichen Artikeln.

Soweit die Selbstbeschreibung.

Auf dem Blog gibt es die drei Kategorien: Belletristik, literarisches Leben und Wissenschaft.

Das literarische Leben beschränkt sich vor allem auf Göttingen, denn hier ist das Blog schließlich angesiedelt. Allerdings bieten drei Theater, eine Reihe von Kleinbühnen und das literarische Zentrum genügend Veranstaltungsraum.

Die meisten veröffentlichten Artikel sind relativ lang. Was jedoch die geringe Veröffentlichungsdichte (nur zwei Artikel pro Woche) erklärt. Allerdings mangelt es auch immer noch an Autoren, denn außer Ruhm und Ehre, ist mit dem Schreiben für Litlog nichts zu verdienen.

 

Schreiben, um zu leben

Kinder, Küche, Kirche – dieser Slogan beschreibt, welche Rolle Frauen in der zeitgenössischen Vorstellung um 1800 zugewiesen wird. Doch einige Frauen lassen sich davon nicht beeindrucken! In der Reihe »Faszinosum Autorinnen um 1800« wird der Blick auf Frauenfiguren gelenkt, die versuchen aus den vorgeschriebenen Rollen auszubrechen. Heute: Johanna Schopenhauer, die Gesellige.

Johanna Schopenhauer mit ihrer Tochter Adele

Nach dem Tod ihres Mannes 1805 blieb Johanna Schopenhauer als wohlhabende Frau zurück. Der Hamburger Kaufmann Heinrich Floris Schopenhauer hatte ihr und den beiden Kindern Arthur und Adele jeweils ein Drittel seines Vermögens vermacht. Nun unabhängig suchte Johanna Schopenhauer einen neuen Wirkungsort. Nach einigen Überlegungen fiel ihre Wahl auf Weimar. Die »Musenstadt« war durch die zahlreichen intellektuellen Größen, die dort lebten, attraktiv, obwohl die Stadt nur sehr klein war.

Für ihre Ankunft in Weimar hätte Johanna Schopenhauer eigentlich keinen ungünstigeren Zeitpunkt wählen können: Nur wenige Wochen nach ihrer Ankunft wurde Weimar von französischen Soldaten besetzt und vom Krieg überzogen. Doch Johanna Schopenhauer machte das Beste aus der Situation. Als Ortsfremde unter dem Schutz der französischen Besatzer setze sie ihr Vermögen ein, um der Weimarer Bevölkerung durch Nahrungsmittel und Verbandszeug zu helfen. So erhielt sie schnell Zugang zum intellektuellen Bürgertum der Stadt.

Der »Theetisch«

Diese Aufnahme in die Weimarer Gesellschaft nutzte sie geschickt, um den Plan umzusetzen, mit dem sie nach Weimar gekommen war: Bereits im Herbst 1806, nur wenige Wochen nach ihrer Ankunft gründete sie ihren Salon. Ihr »Theetisch« wurde schnell zu dem geselligen Zirkel in Weimar. Dabei half besonders, dass sie sich durch die offene und vorurteilsfreie Aufnahme der frisch mit Goethe verheirateten Christiane Vulpius Goethes Dankbarkeit gesichert hatte. Dieser bildete den Mittelpunkt und Anziehungspunkt ihres Salons. Denn während Johanna Schopenhauer zwar die Räume und Möglichkeiten zum Gespräch zur Verfügung stellte, kamen die Besucher doch vor allem, weil sich hier die Gelegenheit bot, Goethe im ungezwungenen Rahmen kennenzulernen.

Reiseberichte

Der gesellige Rahmen in Johanna Schopenhauers Salon diente jedoch nicht nur dem Gespräch, sondern auch dem künstlerischen Leben. Es wurde musiziert, gezeichnet, aber vor allem über Literatur gesprochen. Der Salon bildete die erste Bühne für literarische Versuche. Auch Johanna Schopenhauer wurde in ihrem eigenen Salon zum Schreiben ermutigt. Zur Unterhaltung ihrer Gäste erzählte sie von ihren Reisen mit ihrem verstorbenen Mann. Mit ihm hatte sie Belgien, Italien, England und Schottland bereist. Nun wurde sie von ihren Gästen aufgefordert diese Erlebnisse auch aufzuschreiben und zu veröffentlichen. Dass sich diese Berichte auch noch erfolgreich verkauften, war ein Glücksfall für Johanna Schopenhauer. Denn 1819 ging das Bankhaus, bei dem sie ihr ganzes Vermögen angelegt hatte Bankrott. Sie verlor einen beträchtlichen Teil ihres Vermögens und war plötzlich auf andere Einkünfte angewiesen. Sie begann erfolgreich Erzählungen und Romane zu veröffentlichen, um Geld hinzu zu verdienen. Dennoch hatte sie nun erhebliche finanzielle Schwierigkeiten, musste ihren Salon auflösen und mehrfach in billigere Städte umziehen.

 

Dieser Artikel erschien zuerst auf: litlog.

Zur Reihe gehört auch: Federkiel statt Kochlöffel

Federkiel statt Kochlöffel

Geschichte? – Langweilig! Biographien? – Langweilig! Historische Frauenbiographien? – Doppelt langweilig? Denn welche Faszination sollte das Leben gerade von Frauen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert schon haben? Die Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern scheint immerhin klar zu sein: Während jene sich um Beruf, Politik und Philosophie kümmern und Weltgeschichte schreiben, sind diese für Kinder, Haushalt und Familie zuständig und tauchen in der Weltgeschichte kaum einmal am Rande auf.

Therese Huber am Schreibtisch

Die These der »getrennten Spähren« scheint sich noch zu bestätigen, wenn man einen Blick in die meisten theoretischen Schriften der Zeit wirft. Angefangen bei Rousseau wird den Frauen das Private und Natürliche, den Männern dagegen das Öffentliche und Kultivierte zugeschrieben.

Emanzipation um 1800

Diese Zuschreibungen sind sicherlich vor allem auf das entstehende Bürgertum beschränkt. Denn für Adel und Unterschichten galten schon immer andere Regeln als für das Bürgertum. Doch gibt es die »getrennten Sphären« auch im Bürgertum wirklich uneingeschränkt? Der genaue Blick auf einzelne Frauen führt zum Schluss, dass um 1800 die ersten emanzipierten Frauen leben. Sie bilden keine Frauenbewegung, aber jede für sich erkämpfen sie sich Freiräume und Rechte, die später auch von der Frauenbewegung für alle Frauen gefordert werden. Sie haben kein gemeinsames Programm, aber doch das gleiche Ziel: All diese Frauen sind inspiriert von Aufklärung und Französischer Revolution. Sie wollen die Forderungen nach Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit auch für sich selbst, als Frauen, stellen dürfen.

Frauenbildung

Von Lateinschule und Universität ausgeschlossen ist es für die Frauen der Zeit schwer, Bildung zu erlangen. Allein durch Lesen eignen sich die Frauen des gebildeten Bürgertums jedoch ungeheueres Wissen an. Sie sind eloquent, kultiviert und an Gesellschaft und Politik interessiert. In Salons und durch europaweite Korrespondenzen verschaffen sie sich Freiräume, in denen sie zu Wort kommen können und ihre Position vertreten. Auch von den Eltern bestimmte Konvenienzehen stellen für diese Frauen keine Option mehr dar: Die Scheidungsrate unter ihnen ist enorm hoch.

Zwang zum Schreiben?

Mit dieser selbst gewählten Freiheit entsteht für eine Reihe der Frauen jedoch auch die Not, dass sie – zumindest teilweise – zu ihrem eigenen Lebensunterhalt beitragen müssen. Für bürgerliche Frauen der Zeit ist dies eigentlich unmöglich, gibt es doch keinen einzigen Beruf der ihnen offen steht. Der einzige schickliche Ausweg ist da häufig die Schriftstellerei. Diese findet hinter verschlossenen Türen statt und Bücher können zudem unter schützendem Pseudonym – häufig einem Männernamen – veröffentlicht werden. Zur Schriftstellerin taugen die meisten dieser Frauen auch tatsächlich.

Zwar haben sie anders als die gebildeten Männer ihrer Zeit keine systematische Ausbildung erhalten, aber dennoch brillieren sie im neuen literarischen Genre, dem Roman. Die von ihnen verfassten Romane werden zum Teil so populär, dass eine Reihe der Frauen von den eigenen Einkünften leben kann. Dieser Erfolg bleibt sogar den meisten Männern der Zeit versperrt, gibt es doch noch keine Verträge, die das Einkommen von Schriftstellern regeln. Gleichzeitig ist das Schreiben für diese Frauen jedoch nicht nur äußerer Zwang. Für viele der Schriftstellerinnen ist es ein inneres Bedürfnis zu schreiben und stellt oft die einzige Möglichkeit dar, eigene Gedanken zum Ausdruck zu bringen.

Und das Faszinierende?

Durch geschicktes Ausnutzen der Freiräume, die ihnen zur Verfügung stehen und das gezielte Übertreten von Grenzen, die ihnen zu eng gesetzt sind, schaffen es bildungsbürgerliche Frauen um 1800 völlig neue Wege zu gehen. Sie lassen sich scheiden, ergreifen einen Beruf und verdienen damit Geld, das sie von Männern unabhängig werden lässt. In einer Zeit, in der das genaue Gegenteil zu vermuten wäre, gibt es eine große Zahl unkonventioneller, frei denkender Frauen, die ihr Leben nicht von anderen einschränken lassen.

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Rezensiert: Die Tänzerin im Schnee

Eine Ballerina verkauft ihren gesamten Schmuck. Passiert Spannend wird es jedoch, wenn die Ballerina, wie Nina Rewskaja, aus der UdSSR geflohen ist und dabei ihren Schmuck mit geschmuggelt hat.

Denn hinter dieser Flucht verbirgt sich natürlich eine Geschichte, die erzählt werden muss. Denn als Nina aus der Sowjet Union flieht, lässt sie nicht nur ihre erfolgreiche Karriere, sondern auch ihre große Liebe und ihre beste Freundin zurück. In vielen Rückblicken erinnert sich Nina langsam an die verdrängt Vergangenheit.

Geschickt ist im Roman die Geschichte Ninas mit der des Professors für Russische Sprache Grigori Solodins, der glaubt mit ihr verwandt zu sein. Immerhin befindet sich Schmuck in seinem Besitz, der perfekt zu einem Schmuckstück Ninas passt. Hinzu kommt die Auktionärin Drew Brooks, deren Vergangenheit sich ebenfalls mit der Geschichte vermischt. Während zwar Ninas Erinnerungen den meisten Raum im Roman einnehmen, sind die handelnden Personen doch Solodin und Brooks. Diese versuchen herauszufinden, wie Solodins Herkunft mit Ninas Vergangenheit verbunden ist.

Neben der langsamen Auflösung des Rätsels um Solodins Herkunft, ist der Roman vor allem so spannend, weil Ninas Geschichte ein Gespür dafür vermittelt, wie schwierig es ist in einem Land zu leben, in dem jede Äußerung überwacht wird. Als sie und ihre Freunde, allesamt Künstler, einmal in Verdacht geraten sind, weiß Nina bald vor lauter Verheimlichungen überhaupt nicht mehr, wem sie noch Glauben und Vertrauen soll. Daraus entsteht schließlich der Konflikt, der zu Ninas Flucht führt.

Daphne Kalotay Die Tänzerin im Schnee. Übersetzt von Carina Tessari, Gesine Schörder und Yasemin Dinçer. Hardcover 19,95€, Taschenbuch 9,99€, Kindle 7,99€.

Rezensiert: Mathilde und der Duft der Bücher

Mathilde und der Duft der Bücher – ein Titel der mich als Lesesüchtige, die auf das Reizwort Bücher gepolt ist, natürlich sofort interessiert. Dass die Hauptfigur Buchbinderin ist, macht die Sache nur noch besser. Erschien mir doch der Beruf des Buchbinders, seitdem ich Cornelia Funkes “Tintenherz” gelesen hatte, als der traumhafteste überhaupt. Dazu mag ich Geschichten, in denen “Geheimnise aus der Vergangenheit” aufgearbeitet werden müssen, sehr gerne. So sind diese normalerweise doch spannend und lehrreich zu gleich. Schließlich wird in solchen Geschichten normalerweise mit einer zweiten Erzählebene eine historische Epoche geschildert.

Eine weibliche Heldin mit interessantem Beruf, ein spannendes Thema, alles schien perfekt.

Und der Roman liest sich auch wunderbar flüssig. Die eingearbeiteten Zitate aus Edmond Rostands “Cyrano de Bergerac” sind sehr stimmig. Ich tendiere zwar häufig dazu eingeschobene Stellen zu überfligen oder gar zu überlesen, aber hier habe ich sie alle mitgelesen.

Die Geschichte beginnt mit der Eröffnung von Mathildes neuer Buchbinderwerkstatt in einem kleinen französischen Dorf. Durch Zufall findet Mathilde eine rätselhafte Liste mit Namen, in einem Buch, das ihr zum Restaurieren überlassen wurde. Für den Leser wird zwar schnell deutlich, worum es sich dabei handelt und wie Mathildes Probleme mit dieser Liste zusammenhängen, aber das ist noch nicht so schlimm. Schließlich wäre ja auch interessant zu erfahren, auf welche Art und Weise Mathilde mit Hilfe ihrer Freunde zur Lösung des Problems kommt. Doch hier liegt der Haken des Romans: Mathilde trägt zunächst zwar zur Lösung bei, doch die entscheidenden Schritte geschehen ohne sie und kommen im Roman, der schließlich aus Mathildes Sicht erzählt wird, noch nicht einmal vor. Die Lösung des Rätsels wird nacherzählt! Ich war wirklich, wirklich enttäuscht, als die Seiten immer weniger wurden und der Rätselfortschritt nicht größer wurde.

Diese Erzählstrategie wirkte auf mich, als hätte der Roman eine gewissen Seitenzahl partout nicht überschreiten dürfen, oder als wäre der Autorin gar die Lust am Erzählen ausgegangen.Es ist sehr schade, dass der ansonsten spannende und gut zu lesende Roman dadurch eigentlich den Kernpunkt der Geschichte verliert.

Anne Delaflottes Mathile und der Duft der Bücher wurde von Christian Kolb aus dem Französischen übersetzt. Auf deutsch erschien der Roman bei Kindler. Er kostet als Hardcover 17,95€ und als Taschenbuch 8,99€.

Rezensiert: Corpus Delicti

Als ich ich Juli Zehs Buch in zuerst Händen hielt, war ich zunächst äußerst skeptisch. Immerhin handelt es sich dabei um ein Buch das “Corpus Delicti” heißt und noch dazu den kafkaesken Untertitel “Ein Prozess” trägt. Und mit Kafkas “Prozess” konnte ich noch nie viel anfangen – für meinen Geschmack viel zu bedrückend.
Doch dann habe ich doch noch die ersten Sätze gelesen – und war sofort gefesselt. Durch verschiedene, schnörkellose Sprachstile zieht Zeh den Leser sofort in den Bann: Das Buch beginnt mit einem “Vorwort”, in dem gleich der erste Satz das Konzept des neuen Staates definiert:

Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens – und nicht bloße Abwesenheit von Krankheit.

Die Dystopie eines Staates, der dem Gesundheitswahn verfallen ist und Gesundheit zur neuen Religion erhebt, fesselt. Nicht mehr der Glauben an einen Gott oder die Unterwerfung unter einen Markt bestimmen das Leben und deshalb halten sich die Menschen für frei. Doch aus der Fürsorge um die Gesundheit wächst ein neuer totalitärer Überwachungsstaat. Dieser ist fehlerlos, schließlich hat er nur das Beste für die Bevölkerung im Sinne. Und die Bevölkerung wird überwacht, damit niemand die Gesundheit der anderen gefährdet.

Und während der Leser erkennt, dass auch Gesundheit und Fitness zum neuen Glaubenssystem werden können, halten die meisten Figuren ihre Welt für ideal und ideologielos.

Mia Holl, die Hauptfigur, war lange genug selbst systemtreu. Als jedoch ihr Bruder – wie sie zu wissen glaubt – unschuldig verurteilt wird, beginnt für Mia eine Spirale aus Trauer und kritischem Nachdenken, die sie zum Widerstand gegen das System bringt. Und je mehr Mia versucht Unrecht aufzuzeigen und das System zu kritisieren, umso stärker wird deutlich, dass dieses scheinbar demokratische System ein Überwachungsstaat ist, der vor keinerlei Methoden zurückschreckt. Mia soll gefügig gemacht werden und dazu ist jedes Mittel recht.

Doch Mia lässt sich nicht so einfach brechen – und als Leser hofft man dass sie schließlich doch dem System entkommen wird.

 

Juli Zeh Corpus Delicti. Ein Prozess erschien bei Schöffling & Co. und kostet gebunden 19,90€, als Taschenbuch 9,95€.

Was machen eigentlich Literaturwissenschaftler?

Wer Literatur nicht einfach nur genießen und lesen möchte, sondern sie sich auch gerne über die Oberfläche hinaus erschließen, dem stehen verschiedene Wege dazu offen. Neben der klassischen literaturwissenschaftlichen Analyse nach Form und Inhalt gibt es auch die Möglichkeit zu überlegen, ob im Text bestimmte Themen besonders wichtig sind. Die Theorie ist, dass es in allen Gesellschaften “Kulturthemen” gibt, die sich auch in ihren jeweiligen Ltiteraturen wiederspiegeln. Solche Themen sind zu Beispiel: Geburt und Tod, Gewalt, aber auch alltäglicher erscheinende Dinge, wie Arbeit und Familienleben. Sehr viele solcher Themen sind vorstellbar. Findet man eines dieser Themen nun immer und immer wieder in der Literatur, so kann man davon ausgehen, dass es besonders präsent und wichtig für eine Gesellschaft ist. Die unterschiedliche Verarbeitung in der Literatur lässt dann auch Rückschlüsse auf die Situation der Gesellschaft an sich zu.

Ein Beispiel: Das Kulturthema “Arbeit”

Kathrin Röggla: Wir schlafen nicht

Im Buch kommen sieben verschiedene Personen zu Wort, die alle für eine bestimmte Firma auf einer Messe sind. Scheinbar in Interviews erzählen sie von bestimmten Aspekten des Stresses bei ihrer Arbeit. Businessslang bestimmt die hektischen, sich ständig wiederholenden Äußerungen. Durch konsequente Kleinschreibung und die phrasenhaften Wiederholungen macht das Buch die gestresste Atmosphäre, in der die Protagonisten leben deutlich.

Die völlig verrückte und unnatürliche Situation erinnert übrigens stark an Martin Suters Business Class.

Annette Pehnt: Mobbing

Der Mann der Erzählerin ist bei der Stadt angestellt. Eine typische Kleinfamilie der deutschen Mittelschicht. Doch mit der neuen Chefin ändert sich alles: Der Mann hat das Gefühl in der Arbeit gemobbt zu werden. Da jedoch seine Frau die Erzählerin ist, wissen wir schnell nicht mehr, was Wahrheit und was nur Angst ist. Die doppelte Vermittlung der Ereignisse lässt jede “Wahrheit” undurchschaubar werden. Die beiden Erwachsenen befinden sich in einer Spirale aus Angst vor Arbeitsverlust und Harz4 und gegenseitigem Misstrauen. Alle Lösungsversuche scheitern, so dass sogar die Kommunikation miteinander immer unmöglicher wird. Auch hier ist der große Vorteil des Buches, dass die Sprachlosigkeit, Angst und der zunehmende Verlust des Partners nachvollziehbar wird. Am Ende angekommen, ist man sehr froh wieder in einer weniger bedrückenden Realität angekommen zu sein.

Karen Duve: Taxi

Taxi ist der längste und konventionellste der hier vorgestellten Texte. Die Ich-Erzählerin Alex weiß nach dem Abitur nichts mit sich anzufangen und beschließt auf eine Annonce hin Taxifahrerin zu werden. Zunächst ist der neue Job ein großes Abendteuer: sie fährt nachts und erlebt eine unendliche Zahl  verrückter Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen. Doch schließlich wird Alex von der quälenden Unentschlossenheit, die sie schon zum Taxi fahren gebracht hat, eingeholt. Die Kollegen zitieren frauenfeindliche Philosophen und drängen sie so in die Position der unterlegenen Kollegin. Alex wird von einer schrecklichen Müdigkeit ergriffen, die sie am aufstehen und Arbeiten hindert. Letztendlich wird das Taxifahren für Alex genauso zum Gefängnis, wie sie es von einem Schreibtischjob befürchtet hat.

Das Thema Arbeit in den Texten

Die drei Texte setzen sich auf völlig unterschiedliche Art und Weise mit dem Thema Arbeit auseinander: Die Hektik einer Messe, die Angst vor dem Verlust der Arbeit, der scheiternde Versuch aus dem vorgeschriebenen Lebenslauf auszubrechen. Doch genau damit spiegeln die Texte eine wichtige Thematik in der deutsche Gesellschaft wider: Wir erleben eine zunehmende Entgrenzung von Arbeit und Beruf. Immer mehr Menschen arbeiten von Zuhause und auch noch nach “Feierabend”. Die Harz4-Gesetzgebung hat die Angst vor dem Abrutschen in die Arbeitslosigkeit verstärkt und das Problem von Arbeitslosigkeit nicht gelöst. Auch die Frage nach “Erfüllung” durch den Beruf steht immer noch im Raum. Immer mehr Menschen arbeiten in kreativen Berufen, die von traditionellen Erwerbsbiographien (lebenslanges Arbeiten für einen Betrieb) weit entfernt sind. Gleichzeitig erleben sie, dass die versprochene Selbstverwirklichung auch durch diese Berufe nicht immer möglich ist.

Die Besonderheit der Verarbeitung solcher Themen in der Literatur ist, dass das Geschilderte nachfühlbar wird. Anders als Zeitungsberichte – in denen die Themen naturgegeben auch auftauchen – kann Literatur auf einer direkten emotionalen Basis vermitteln. Beim Lesen sind wir gewissermaßen für eine kurze Zeit die Personen, von denen die Geschichten handeln. Wir können in Rollen schlüpfen, die wir im realen Leben nie einnehmen könnten oder wollten. Und auch wenn die Erlebnisse, die wir in diesen Rollen machen nicht real sind: Sie hinterlassen ihre Spuren, sind Erkenntnisgewinn und Bereicherung und somit durchaus echt. Sie fördern das Verständnis für diejenigen, die unter Umständen solche Erfahrungen tatsächlich machen müssen. Denn: wir haben die Situation ja schon einmal selbst “erlebt”.

Rezensiert: The Last Dragonslayer

Als eingefleischter Harry Potter Fan empfand ich eine gewisse Skepsis, ob mir ein Buch gefallen könnte in dem es erneut um Zauberer und Magie geht. Lautet die Beschreibung von The Last Dragonslayer doch:

In the good old days, magic was powerful, unregulated by government, and even the largest spell could be woven without filling in magic release form B1-7g.
Then the magic started fading away. Powerful wizards who once controlled the weather now did home improvements, plumbing and wiring, drain unblocking and mole charming.

Aber zum Glück geht es im Buch ja um etwas ganz anderes als in Harry Potter! Laut einer Prophezeiung ist die Zeit gekommen, in der der letzte lebende Drache getötet werden muss. Zum Glück ist die Protagonistin(!) völlig anders: Was die 17-jährige Jennifer Strange mit dem Drachen zu tun haben soll, ist ihr selbst nicht recht klar. Aber selbstsicher, gut in Organisation und alle Selbstzweifel geschickt überspielend, findet sie eine Weg mit ihrer Rolle als Dragentöterin umzugehen. Sie entkommt der paparazzihaften Presse und den Erpressungsversuchen des Königs und tut am Ende das, was sie für angemessen hält und auch dem Leser als die einzig richtige Lösung erscheint. Zum Glück geht es um etwas völlig anderes: Magie existiert nur eben so gerade noch, Zauberer scheinen auszusterben, ein Drache ist – scheinbar – der Hauptfeind.

Natürlich gibt es Paralellen zu Harry Potter: eine Prophezeiung, eine elternlose Protagonistin, den bösen Zauberer…
Aber indem The Last Dragonslayer in einer anderen, viel bunteren, moderneren und verrückteren Wirklichkeit spielt als Harry Potter, vergisst man alle Ähnlichkeiten.

Großartig! Lesen! Sofort auf Englisch, denn auch im Original ließ es sich leicht und verständlich, oder irgendwann in diesem Jahr auf Deutsch in der Übersetzung von Isabel Bogdan

The Last Dragonslayer von Jasper Fforde erschien als Taschenbuch 2011 bei Hodder & Stoughton und kostet als Taschenbuch 6,99€.
Jasper Fforde hat auf seiner Homepage eine eigene Seite für die Drachentöter-Serie.

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Rezensiert: Über die Moden

Eine der frühesten Auseinandersetzungen mit der Frage, was eigentlich Mode ist, wurde von Christian Garve 1792 verfasst. In seiner Analsye geht es dabei jedoch nicht um Kostümgeschichte: Er zeichnet keinen Verlauf unterschiedlicher Mode- und Kleidungsstile nach. Viel mehr beschäftigt Garve die Frage nach der sozialen Bedeutung von Mode. Er zeigt den Zusammenhang von Kleidung und sozialen Hierarchien auf und wie durch Mode der soziale Status einer Person widergespiegelt wird. Außerdem analysiert er Mode eben nicht nur in Bezug auf Kleidung und andere Gegenstände sondern auch in Bezug auf Verhaltensweisen. Dabei macht er deutlich, dass Kleidung besonders schnell über verschiedene Schichten hinweg verbreitet wird, während die Schichten sich durch Verhaltensweisen deutlich von einander abgrenzen können.

Dazu analysiert er besonders die Mode seiner Zeit und beschreibt deswegen, wie Mode in Monarchien funktioniert. Denn, so Garve, es braucht ein gesellschaftliches Zentrum (wie zum Beispiel einen Königshof), von dem aus Mode sich verbreiten kann. Dennoch enthält sein Essay einige Beobachtungen, die auch in der modernen Soziologie noch relevant sind. So beschreibt er – ohne natürlich die modernen wissenschaftlichen Begriffe zu verwenden – verschiedene Mechanismen im sozialen und kulturellen System.
Sein Aufsatz beginnt so zum Beispiel mit der Feststellung, dass Menschen, die engen sozialen Umgang miteinander pflegen, sich einander ganz unwillkürlich in Aussehen und Verhalten anpassen. Diese Beobachtung findet sich ganz ähnlich im Habituskonzept von Bourdieu wieder.

Darüber hinaus findet sich bei ihm auch die Idee des Gesunkenen Kulturgutes, wie sie von Naumann formuliert wird: Garve beschreibt sehr ausführlich, wie sich eine Mode in Kleidung oder Verhalten von einer Schicht auf die nächste überträgt. Moden entstehen ihm zufolge dort, wo Geld, Zeit und modisches Wissen vorhanden sind: also besonders im Adel. Sie werden dann zunächst vom reichen, dann vom weniger reichen Bürgertum kopiert, bis sie schließlich auch in den unteren Schichten ankommen. Währenddessen haben sich im Adel natürlich längst neue Moden herausgebildet.

Wie modern Garves Analyse ist, zeigt sich jedoch nicht nur, wenn er die Verbreitungsmechanismen von Mode beschreibt. Beim Lesen des Essays ist mir schnell aufgefallen, dass Garve in seiner Analyse nicht in Geschlechterstereotype verfällt. Bis auf die letzten zwanzig Seiten spielt Geschlecht im Essay überhaupt keine Rolle. Beim Lesen wusste ich zunächst gar nicht, ob ich darüber erfreut, erstaunt oder verwirrt sein sollte. Diese Ausgeglichenheit in der Analyse liegt meiner Meinung genau daran, dass Garve Mode nicht ausschließlich als Kleidermode begreift. Indem er auch die veränderlichen Verhaltensweisen von Menschen darunter fasst, wird Mode zum definitiv allgemein menschlichen Phänomen. Erst ganz zum Schluss geht er dann dann doch noch auf die Zusammenhänge von Mode und Geschlecht ein. Er bezieht sich dabei jedoch auf Männer und Frauen. Es geht ihm aber auch dann nicht darum bestimmte stereotype Geschlechterrollen zu reproduzieren – ein für seine Zeit erstaunliches Vorgehen. Stattdessen geht es ihm um die Beschreibung, wie Männer und Frauen mit Mode umgehen und welchen Beschränkungen sie dabei unterliegen.

Christian Garve: Über die Moden. Insel 1972. Leider vergriffen, aber als PDF verfügbar.

Rezensiert: „Die schöne Gewohnheit zu leben – Eine italienische Reise “ von Martin Mosebach

Die im Berlin Verlag erschienene Ausgabe von Die schöne Gewohnheit zu leben – eine italienische Reise ist besonders schön: allein die Leinenhaptik des Einband verbunden mit einem in gelb-orange-Tönen gehaltenen Früchtebild und Blick auf einen italienischen Palazzo lässt den Betrachter bereits gedanklich in den Urlaub abschweifen.

Der Blick ins Inhaltsverzeichnis enttäuscht nicht: Das Büchlein beinhaltet mehrere Betrachtungen über verschiedene italienische Städte, italienische Bräuche und italienische Kultur.

Doch die Kürze der Geschichten ist keineswegs ein Zeichen von mangelndem Einfallsreichtum – vielmehr sind es sprachgewandte Betrachtungskonzentrate italienischer Lebensart und deren Verwurzelung mit Architektur und Landschaft. Martin Mosebachs Geschichten sind nicht nur inhaltlich ein Genuss: auch Aufbau und Komposition seiner Geschichten, sowie seine unglaubliche Sprachverwendung lassen den Leser seine Erzählungen doppelt genießen.

So kann man mit einem Griff zu diesem Buch einen kurzen gedanklichen Sommerurlaub machen und danach, inspiriert durch die Beschreibung der Städte, am besten gleich den nächsten Urlaub in Italien zu buchen.