Was machen eigentlich Literaturwissenschaftler?

Wer Literatur nicht einfach nur genießen und lesen möchte, sondern sie sich auch gerne über die Oberfläche hinaus erschließen, dem stehen verschiedene Wege dazu offen. Neben der klassischen literaturwissenschaftlichen Analyse nach Form und Inhalt gibt es auch die Möglichkeit zu überlegen, ob im Text bestimmte Themen besonders wichtig sind. Die Theorie ist, dass es in allen Gesellschaften “Kulturthemen” gibt, die sich auch in ihren jeweiligen Ltiteraturen wiederspiegeln. Solche Themen sind zu Beispiel: Geburt und Tod, Gewalt, aber auch alltäglicher erscheinende Dinge, wie Arbeit und Familienleben. Sehr viele solcher Themen sind vorstellbar. Findet man eines dieser Themen nun immer und immer wieder in der Literatur, so kann man davon ausgehen, dass es besonders präsent und wichtig für eine Gesellschaft ist. Die unterschiedliche Verarbeitung in der Literatur lässt dann auch Rückschlüsse auf die Situation der Gesellschaft an sich zu.

Ein Beispiel: Das Kulturthema “Arbeit”

Kathrin Röggla: Wir schlafen nicht

Im Buch kommen sieben verschiedene Personen zu Wort, die alle für eine bestimmte Firma auf einer Messe sind. Scheinbar in Interviews erzählen sie von bestimmten Aspekten des Stresses bei ihrer Arbeit. Businessslang bestimmt die hektischen, sich ständig wiederholenden Äußerungen. Durch konsequente Kleinschreibung und die phrasenhaften Wiederholungen macht das Buch die gestresste Atmosphäre, in der die Protagonisten leben deutlich.

Die völlig verrückte und unnatürliche Situation erinnert übrigens stark an Martin Suters Business Class.

Annette Pehnt: Mobbing

Der Mann der Erzählerin ist bei der Stadt angestellt. Eine typische Kleinfamilie der deutschen Mittelschicht. Doch mit der neuen Chefin ändert sich alles: Der Mann hat das Gefühl in der Arbeit gemobbt zu werden. Da jedoch seine Frau die Erzählerin ist, wissen wir schnell nicht mehr, was Wahrheit und was nur Angst ist. Die doppelte Vermittlung der Ereignisse lässt jede “Wahrheit” undurchschaubar werden. Die beiden Erwachsenen befinden sich in einer Spirale aus Angst vor Arbeitsverlust und Harz4 und gegenseitigem Misstrauen. Alle Lösungsversuche scheitern, so dass sogar die Kommunikation miteinander immer unmöglicher wird. Auch hier ist der große Vorteil des Buches, dass die Sprachlosigkeit, Angst und der zunehmende Verlust des Partners nachvollziehbar wird. Am Ende angekommen, ist man sehr froh wieder in einer weniger bedrückenden Realität angekommen zu sein.

Karen Duve: Taxi

Taxi ist der längste und konventionellste der hier vorgestellten Texte. Die Ich-Erzählerin Alex weiß nach dem Abitur nichts mit sich anzufangen und beschließt auf eine Annonce hin Taxifahrerin zu werden. Zunächst ist der neue Job ein großes Abendteuer: sie fährt nachts und erlebt eine unendliche Zahl  verrückter Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen. Doch schließlich wird Alex von der quälenden Unentschlossenheit, die sie schon zum Taxi fahren gebracht hat, eingeholt. Die Kollegen zitieren frauenfeindliche Philosophen und drängen sie so in die Position der unterlegenen Kollegin. Alex wird von einer schrecklichen Müdigkeit ergriffen, die sie am aufstehen und Arbeiten hindert. Letztendlich wird das Taxifahren für Alex genauso zum Gefängnis, wie sie es von einem Schreibtischjob befürchtet hat.

Das Thema Arbeit in den Texten

Die drei Texte setzen sich auf völlig unterschiedliche Art und Weise mit dem Thema Arbeit auseinander: Die Hektik einer Messe, die Angst vor dem Verlust der Arbeit, der scheiternde Versuch aus dem vorgeschriebenen Lebenslauf auszubrechen. Doch genau damit spiegeln die Texte eine wichtige Thematik in der deutsche Gesellschaft wider: Wir erleben eine zunehmende Entgrenzung von Arbeit und Beruf. Immer mehr Menschen arbeiten von Zuhause und auch noch nach “Feierabend”. Die Harz4-Gesetzgebung hat die Angst vor dem Abrutschen in die Arbeitslosigkeit verstärkt und das Problem von Arbeitslosigkeit nicht gelöst. Auch die Frage nach “Erfüllung” durch den Beruf steht immer noch im Raum. Immer mehr Menschen arbeiten in kreativen Berufen, die von traditionellen Erwerbsbiographien (lebenslanges Arbeiten für einen Betrieb) weit entfernt sind. Gleichzeitig erleben sie, dass die versprochene Selbstverwirklichung auch durch diese Berufe nicht immer möglich ist.

Die Besonderheit der Verarbeitung solcher Themen in der Literatur ist, dass das Geschilderte nachfühlbar wird. Anders als Zeitungsberichte – in denen die Themen naturgegeben auch auftauchen – kann Literatur auf einer direkten emotionalen Basis vermitteln. Beim Lesen sind wir gewissermaßen für eine kurze Zeit die Personen, von denen die Geschichten handeln. Wir können in Rollen schlüpfen, die wir im realen Leben nie einnehmen könnten oder wollten. Und auch wenn die Erlebnisse, die wir in diesen Rollen machen nicht real sind: Sie hinterlassen ihre Spuren, sind Erkenntnisgewinn und Bereicherung und somit durchaus echt. Sie fördern das Verständnis für diejenigen, die unter Umständen solche Erfahrungen tatsächlich machen müssen. Denn: wir haben die Situation ja schon einmal selbst “erlebt”.