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Vom Märchenleser zum Serienjunkie (8)

Kontexte und Rezeptionswissen: Von Großmutters Schoß zu Kino und Fernsehen

Die Ever After High Filme sind „intertextuell“ und intermedial. Zum einen greifen sie das Genre des High-School-Movies auf, zum anderen werden Märchencharaktere aus dem Medium des Märchens in das des Films übertragen. Die Figuren können im Film nur erkannt werden, weil das kulturell notwendige Kontextwissen vorhanden ist.

Erzählungen wird häufig der Aspekt von Tradierung und Tradition zugeschrieben. Allerdings gibt es keine „reine“ Tradition, wie sie auch in der Wissenschaft bis in die ‘60er angenommen wurde, da es auch keine „Originaltexte“ gibt. Texte werden beim erzählen immer verändert, neu geformt, verlängert, gekürzt. Jedes Vortragen eines Textes macht diese Performanz zu einem ephemeren Original. Erst mit der Veränderung der Medien, die Texte haltbar und reproduzierbar machen, entsteht überhaupt die Frage nach dem Copyright und damit die nach dem Original eines Textes.

Typische Rezeptionskontexte sind die Familie oder die Bühne. Wird in der Familie erzählt, ist das intime Setting und das Zuhören wichtiger, als die Herkunft der Geschichte. Die Erzählstimme wechselt zwischen verschiedenen Personen und im Gespräch wird häufig erst Ausgehandelt, was die richtige Geschichte ist. Im Gegensatz dazu schaffen Bühnen eine Hierarchie zwischen Zuschauern und Sprechern, die Autorität über das Erzählte haben. Allerdings gibt es auch hier Formen, bei denen die Interaktion zwischen Publikum und Performierenden gewünscht ist, wie beispielsweise im Kasperletheater.

Durch Leinwände und Bildschirme werden die Körper der Zuhörenden diszipliniert. Kinos haben den Anspruch Filmtheater zu sein und zwingen die Körper des Publikums in eine bestimmte formelle Haltung, die auf die Leinwand ausgerichtet ist (Gleichzeitig schaffen sie aber mit Popcorn und Cola ein informelleres Setting, bei dem beim Genuss einer Erzählung gleichzeitig Essen konsumiert werden darf.) Mit der zunehmenden Alltagsintegration von Bildschirmen durch die Allgegenwart von Computern und Smartphones wird der Rezeptionskontext von medialen Inhalten zunehmend informeller. Auch hier lässt sich eine Gleichzeitigkeit im Konsum von Geschichten und Nahrung beobachten. Wie sich diese geteilte Aufmerksamkeit auf Rezeptionsverhalten und Interaktion mit anderen auswirkt, ist allerdings noch nicht erforscht.

Wie Bachtin, Barthes und Kristeva in ihren Arbeiten zu Intertextualität herausstellen, sind Texte nicht ohne andere Texte vorstellbar. Alle Texte greifen immer auf andere Texte zurück. Dies kann strukturell, inhaltlich oder stilistisch geschehen. Aber auch die Performanz oder Inszenierung eines Textes kann auf andere Performanzen und Inszenierungen verweisen. Diese intertextuellen Bezüge sind dabei nicht immer positiv, sondern können auch als Abgrenzung vorhanden sein.

Der Begriff der Intermedialität ist die logische Erweiterung des Begriffs der Intertextualität. Nun geht es nicht nur um Bezüge zwischen Texten, die im selben Medium vorliegen, sondern zwischen Erzählungen, die in unterschiedlichen Medien präsentiert werden. Geschichten können Medienwechsel durchmachen, wenn zum Beispiel aus einem Comic ein Film wird. Wenn gewisse ästhetische Aspekte gekoppelt werden, werden die Anspielungen auf ein anderes Medium deutlicher. Die Shrek-Filmreihe ist ein gutes Beispiel für intermediale Übernahmen: Märchenfiguren werden aus Buchmärchen in den Film geholt, die Filme sind als Parodie auf die Disney-Märchenfilme zu sehen und es werden jede Menge Figuren aus anderen Erzählungen „ausgeliehen“. Durch solche intermedialen Verknüpfungen entsteht ein Sehgenuss speziell für Erwachsene, da zu ihrem Erkennen ein bestimmtes Vorwissen vorhanden sein muss.

Leseliste (13): 12.12.2013

Gelesen:

Mimi Schippers nutzt The Hunger Games als Aufhänger, über Geschlechterrollen zu reflektieren. Sie bemerkt, dass Geschlecht nicht nach sex sondern danach, welche gender-Rolle gespielt wird, zu geschrieben wird und dass diese Rollen zunehmend offener werden. Im Anschluss an diese zugegeben nicht völlig neue Feststellung überlegt sie, wie es sich auf Genderrollen auswirken könnte, wenn der Zwang zu monogamen Beziehungen nicht existieren würde, sondern Menschen in unterschiedlichen Beziehungen unterschiedliche Rollen übernehmen könnten.

Manchmal wünsche ich mir dann doch Kinder – oder wenigstens Mitbewohner. Ich möchte wirklich gerne Quatsch mit Spielzeug anstellen, so wie Refe Tuma, der mit seiner Frau zusammen im November die Spielzeugdinos seiner Kinder zu Unsinn angestiftet hat (sehr großartige Bilder).

 

Außerdem habe ich heute endlich mal wieder für meine Masterarbeit verschiedene Artikel im Journal des Luxus und der Moden  gelesen:

Einen Artikel über literarische Moden um 1800 und dabei ganz besonders zu Schauerromanen:

Der Gipfel des Talents, sagt eine geistreiche Französin, besteht darin, daß man drey Bände hindurch den Leser in Schrecken setzt, um ihm im vierten zu beweisen, daß er sich nicht hätte schrecken lassen dürfen, oder, wie ich lieber sagen möchte, daß es nicht die Mühe oder Anstrengung lohnte.

Einen Artikel über Musik und Schauspielkunst in Wien:

In den Wirthshäusern der Vorstädte kann man sich auf immer einen Eckel vor Tanzmusik holen. Man denke sich zwey unrein gestimmte Violinen, zwey Klarinetten, denen fast alle Töne umschlugen, ein paar Trompeten, die ziemlich C stimmten, einen Violon ad libitum gestrichen, einen Vorfiedler, der wie ein Rasender die Achtel, vorzüglich die zwei gewichtlosen, unter dem Tische stampft, dabey statt f und g immer fis und gis greift; nach dieser Musik denke man sich herzhaft herumtaumelnde Tänzer, und man hat ein Kirchweihfest, oder vielmehr einen Wildentanz, bey dem Personen aus höheren Klasen recht vergnügt speisen konnten.

 

Ich bin aber auch überzeugt, daß kein Publikum im Schauspielhause so unartig ist als das wienerische. Um 7 Uhr soll der Anfang des Stückes jedesmal seyn; dauert es nun nur einige Minuten länger als 7, so ist auch gleich ein Lärmen, ein Klatschen und Stampfen, daß man in Gefahr ist, sein Gehör einzubüßen. – Sehr lästig und oft für die Gesundheit nachtheilig ist für den Sänger der Beyfall des Publikums; denn wenn eine Arie gefällt, so lärmt und klatscht man so lange, bis sie wiederholt wird, und wenn der Sänger darüber zu Grunde gehen sollte; und das ist nicht allein bey Favoritgesängen, sondern bey den schwersten, angreifendsten Bravourarien der Fall. z.E. in Figaros Hochzeit mit der Arie: Jetzt gehts nicht mehr an Damentoilettten, wo noch dazu das Allegro ganz ausnehmend geschwind gespielt wird.

Vom Märchenleser zum Serienjunkie (7)

Angstlust, also das Vergnügen daran sich freiwillig in Situationen zu begeben, in denen Angst empfunden wird, wird von Filmen durch verschiedene Erzählstrategien besonders gefördert. In Psycho wird beispielsweise schon durch die schwarz-weiß Bilder ein Entfremdungseffekt erzielt. Bestimmte Kameraperspektiven steuern die Perzeption des Zusehers. Die Inszenierung und besonders die Filmmusik machen die Erzählung eigentlich erst Angsteinflößend. Dabei wird geschickt mit erzählerischen Steigerungen gespielt, die üblicherweise zu Horrormomenten führen, ohne dass diese Erwartung dann eingelöst wird.

Humor und Aggression

Nach Propp und Jolles haben einfache Formen bestimmte Emotionen zugeordnet. Die Oberflächenstruktur der Erzählung bestimmt die hervorgerufenen Emotionen.
Das Kategorisieren von Erzählgattungen und die dadurch hervorgerufenen Erwartungen hat also eine gewisse Tradition

Bambi war 1942 der erste abendfüllende Tierfilm. Bambi meets Godzilla von 1963 wird bist heute auf der Liste der 50 besten je gemachten Cartoons geführt. Was auch die Menge der davon inspirierten Kurzfilme beweist.

Lachen gehört zu den Emotionen, die Menschen zu Menschen macht. Es ist eine „physische Reaktion auf eine kognitive Erfahrung“. Menschen lachen über Dinge, die ihnen Spass machen, um Konflikte abzuwenden, aus Erleichterung nach Angstsituationen. Lachen kann jedoch auch eine Drohgebärde sein oder Überlegenheit demonstrieren.

Verschiedene Wissenschaftler haben sich theoretisch mit dem Lachen auseinandergesetzt. Henri Bergson versuchte um 1900 eine Theorie des Komischen aufzustellen. Michail Bachtin hat mit seinen Forschungen zum Karneval Mitte des 20. Jahrhunderts das anarchische Potential von Lachen und Humor untersucht. Er stellt den Karneval als Zeit der sozialen Umkehr und der möglichen Tabuverletzungen heraus. Freud dagegen hat sich mit dem Witz als spezifischer Erzählgattung beschäftigt.

Humor wird seit dem 18. Jahrhundert ausgehend von England zur grundsätzlichen Einstellung gegenüber der Welt. Er bildet dabei einen psychischen Ausgleich. Die Fähigkeit Dinge mit Humor zu nehmen ist im Gegensatz zum Lachen allerdings nicht angeboren.

Komik wirkt in Erzählungen vor allem über den Intellekt. So wird zum Beispiel eine Einheit aus Gegensinnigem oder Inkongruentem gebildet oder starke Kontraste zwischen Inhalt und Stil verwendet, die dann verstanden und entschlüsselt werden müssen. Komik wird von Lust und einem positiven Lebensgefühl getragen, kann aber auch Aspekte von Aggression enthalten.

Humorvolle Erzählgattungen wie Witz, Schwank, Seemansgarn oder Lügenmärchen, arbeiten häufig mit Elementen der Statusgefährdung und Untergrabung. So beispielsweise bei der Erzählung von Majestix aus Asterix oder dem verkehrten Herrschaftsverhältnis in Jeeves and Wooster. (Der Trailer ist leider nur auf deutsch verfügbar, aber man sollte Jeeves and Wooster DRINGEND und am besten auf englisch angucken.)

Die Markierung als Witz im performativen Erzählrahmen macht es häufig möglich Dinge zu sagen, die anders nicht sagbar sind und schützt somit vor negativen Konsequenzen. Auch der Verweis darauf, dass mit dem Witz nicht primär eigene Gedanken wiedergegeben werden, hat diese Schutzfunktion.
Witze sind eine recht gut untersuchte Gattung, wie zahlreiche Witzsammlungen, Aufsätze und Publikationen belegen. Im Gegensatz dazu sind allerdings die Erzählkontexte und die Rezeption eher schlecht erforscht.

Psychologie und Psychoanalyse haben sich mit fantasievollen Erzählungen auseinandergesetzt. Freud sieht phantastische Erzählungen als Zeichen von Realitätsverlust und Produkt von Neurosen und Störungen. Das Lachen als Lustgewinn gegenüber unterdrückten (sexuellen) Bedürfnissen. Jung dagegen bewertet Fantasie positiv. Er sieht ihn fantasievollen Geschichten einen kollektiven Fundus angeborener Bilder (Archetypen).
Darüber hinaus wird auch immer wieder der hohe Nutzen von Erzählungen bei der individuellen Reifung betont. Bettelheim weist besonders auf den Nutzen von Märchen hin. Dass Märchen aktuell als besonders brutale Erzählungen angesehen werden können, ist ihm zufolge nicht so relevant, da Kinder diese Brutalität erkennen und verarbeiten könnten.

Vom Märchenleser zum Serienjunkie (6)

Angst und Horror, Rührung und Schmerz

Wie kommt es, dass echte Angst und echter Horror psychisch äußerst anstrengend sind, fiktive Angst und fiktiver Horror dagegen sehr beliebt?

Angst, so die eine These, entsteht durch die Verlusterfahrung, die jeder Mensch bei seiner Geburt macht. Angst, so die anderer These, ist immer die Angst gefressen zu werden. Aus kulturanthropologischer Sicht sind diese beiden Vorstellungen zwar zu weit gegriffen, gesellschaftlich sind sie jedoch durchaus populär. Während also nicht so ganz klar ist, wie Angst ursprünglich entsteht, kann aber beobachtet werden, dass Erzählungen die Möglichkeit bieten, Angst sekundär zu erleben. Die menschliche Fähigkeit sich Emotionen vorzustellen und fast identisch zu erleben, macht es möglich, dass Emotionen erlernt werden können.

Menschen tendieren darüber hinaus dazu, bewusst nach Formaten zu Suchen, die bestimmte Emotionen hervorbringen.

Allerdings sind unterschiedliche Emotionen unterschiedlich leicht öffentlich auszuführen: Lachen ist beispielsweise eine deutlich einfachere und akzeptierte Emotion als Weinen. Hinzu kommt, dass durch Erzählungen hervorgerufene Tränen und Rührung gleichzeitig das Gefühl hinterlassen, der Geschichte auf den Leim gegangen zu sein.

Bestimmte erzählerische Genres haben besonders ausgeprägte gesellschaftliche Funktionen. Mythen beispielsweise erzählen vom Ursprung der Welt und machen die Zukunft ertragbar, indem sie ritualisierende Wiederholungen einbauen und Tod und Nachleben erklären.

In der Folge wird in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen häufig auf Erzählungen zurückgegriffen, als wären die in den Erzählungen transportierten Inhalte absolute Wahrheiten, um so bestimmte Positionen zu begründen.

Unterhaltung ist häufig nur die oberflächliche Funktion von Erzähltem. Stattdessen geht es darum bestimmte kulturelle Praxen zu validieren, Institutionen und Regeln zu erklären und legitimieren. Erzählungen haben also gewisse erzieherische Funktionen, indem sie Alltagswerte und Verhaltensweisen vermitteln. Diese verschiedenen Funktionsebenen von Erzählungen sind aber miteinander verschlungen und häufig nicht so einfach isolierbar.

Erzählungen die Angst hervorrufen, um somit Strategien der Angstbewältigung zu vermitteln, sind sowohl historisch als auch aktuell sehr populär. Ob es sich um Sagen von schlechten Herrschern, gefährlichen Berufen und Monstern oder um die Gefahr neuer Technologien und gefährlichen fremden Kulturen handelt, als Konstante bleibt immer die Warnung vor Sittenverfall und Blamage.

Vom Märchenleser zum Serienjunkie (5)

Technische Innovationen und Sinnesarbeit

Durch Medien werden Erzählungen verändert.

Im Kommunikationsmodell nach Jacobson steht zwischen dem Sender und dem Empfänger einer Nachricht nicht nur die Nachricht selbst, sondern auch ihr Kontext, ihr Übermittlungskanal und ihr Code. Erst aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Vermittlungsaspekte ergibt sich die eigentliche Botschaft.

Durch den Druck verändert sich so zum Beispiel auch, wie Geschichten vorgetragen werden:

Die Zuhörer können jetzt nicht nur der Geschichte zuhören und eigene Bilder im Kopf haben, sondern bekommen Illustrationen mitgeliefert. Aus heutiger Sicht mag dies banal und wenig imposant wirken, aber historisch gesehen sind in einer Zeit der Bilderarmut solche Geschichten mit gelieferten werden sehr einprägsam.

Mit dem Buchdruck wird schließlich der Zugang zu Wissen für breite Bevölkerungsschichten revolutioniert. Neben Enzyklopädien und der Bibel ist plötzlich auch Literatur leichter zugänglich. Kolporteure verbreiten Volksbücher und andere Geschichten als Hausierer. Die Zensurbehörden versuchen dabei mit pädagogischen Maßnahmen auf die verbreiteten Inhalte einzuwirken. Gleichzeitig werden als minderwertig verschrieene Bücher aber auch von einer intellektuellen Oberschicht interessiert gelesen.
Die Kritik am billigen Massenvergnügen endet dabei allerdings nicht mehr, sobald sie einmal begonnen hat. Während früher besonders Unterschiede zwischen „hoher“ und „populärer“ Literatur gezogen wurden (oder dem literarisch wertvollen Drama im Gegensatz zum „Schundroman“), wird Medienkritik heute besonders am Fernsehkonsum sichtbar. Allerdings ist auch hier ein Umbruch zu spüren: Etwa seit 2000 entsteht „Quality TV“, wo bestimmte Serien als besonders herausragendes Erzählen interpretiert werden. Dies gilt zum Beispiel für Sorpanos, Mad Men oder auch Sherlock. Man könnte nun unterstellen, dass dieser Aufwertungsprozess hauptsächlich das Ziel hat, auch hochkulturell-positionierten Fernsehkritikern zu ermöglichen ohne schlechtes Gewissen Serien zu konsumieren.

Das steigende Tempo in der Produktion von neuen Geschichten (Serien!!) verändert die Erwartungen der Konsumenten an Geschichten.
http://www.youtube.com/watch?v=YlrP2IR58

Zitate aus der Wissenschaft 5

Ich sehe zum Beispiel zu, wie mein Schwager meinen eigenen ungezogenen Sprößling verprügelt, und weiß, daß es sich dabei um einen Fall von Verprügeln handelt, einen auch zwischen anderen Onkeln und Neffen üblichen Vorgang, ja, geradezu um die Regel in einer matrilinearen Gesellschaft. Nur wenn das letztere der Fall ist, nimmt der einzelne Vorgang einen gesellschaftlich selbstverständlichen Verlauf: als leiblicher Vater ziehe ich mich diskret von der Szene zurück, um die legitime Ausübung von Onkelpflichten nicht zu stören.

Zitat aus Berger/Luckmann Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Berger und Luckmann beschreiben welche Prozesse nötig sind, damit Gesellschaft (und das, was wir als Wirklichkeit wahrnehmen) entstehen können. So im großen und ganzen ist das alles auch sehr einleuchtend. Aber auf jeder dritten Seite kommen dann leider Beispiele zur Illustration der Thesen, die insgesamt vielleicht nicht ganz so brutal sind, wie das obige, aber doch eher verwirrend. Gerade sitze ich vor dem Buch und denke vor allem WTF?!?!!!!

Ich hätte einfach nach folgendem Zitat aus dem Vorwort doch das Buch wieder zuklappen sollen:

Es ist bei obwaltendem Anlaß üblich, auch der unwägbaren Hilfe von Ehefrauen, Kindern und etwas zweifelhafteren Angehörigen genüge zu tun […] danken wir Brigitte Berger und Benita Luckmann – mehr noch als für wissenschaftlich irrelevante private Rollen-Auffassung – für Kritik als Soziologinnen und für die standhafte Weigerung, sich leicht beeindrucken zu lassen.

An dieser Stelle habe ich mich das erste Mal gefragt, ob Berger/Luckmann überhaupt zu irgendwelcher Selbstreflexion fähig sind, wie die beiden Gattinnen das mit der Rollenverteilung sehen und wie blind Patriarchat eigentlich macht…

Vom Märchenleser zum Serienjunkie (4)

Vorlesen und Lesen – Bild, Schrift und Performanz

Fiction has two uses. Firstly, it’s a gateway drug to reading. The drive to know what happens next, to want to turn the page, the need to keep going, even if it’s hard, because someone’s in trouble and you have to know how it’s all going to end … that’s a very real drive. And it forces you to learn new words, to think new thoughts, to keep going. To discover that reading per se is pleasurable. Once you learn that, you’re on the road to reading everything. And reading is key.
Neil Gaiman im Guardian

Die Fähigkeit zu Lesen ist eine Schlüsselqualifikation. Nicht nur, weil man sich ohne lesen zu können nicht in unserer Welt zurecht findet, sondern auch, weil das Lesen fiktiver Texte die Phantasie und Vorstellungskraft fördert.

Schrift stellt die erste Revolution für die menschliche Begeisterung für Geschichten und Erzählungen dar. Denn nun können Geschichten festgehalten werden und “verschwinden” nicht mehr direkt, nachdem sie erzählt wurden. Tatsächlich stellen Geschichte und Geschichten neben Gesetzestexten die ersten aufgeschriebenen Texte dar. Die zweite Revolution ist dann der Buchdruck. Bald sind Geschichten nicht mehr nur einer kleinen Minderheit sondern für die breite Masse zugänglich.

McLuhan (the medium is the message) beschreibt, wie durch die Form des Mediums, in dem eine Botschaft transportiert wird, sich diese selbst verändert. Dabei spielt besonders die Halbarkeit von Trägermedien (Pergament vs. CD-Rom) und der Einfluss des Mediums auf die körperlichen Aspekte der Rezeption (Buch in der Hand vs. Reader) eine Rolle.
Die Verschriftlichung und die Möglichkeit des Alleine-Lesens kann dabei als erster Schritt zu Individualismus (oder negativer ausgedrückt zu Vereinzelung) gesehen werden. Durch die Rezeption fiktiver Texte für sich allein wird ein Ausbruch aus der Gemeinschaft möglich.

Walter Ong sieht in der Entwicklung der Medien keinen Übergang von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, sondern betont, dass geschriebene Texte mündlich vorgetragene ergänzen.
Er stellt einerseits die Dynamik des Mündlichen heraus, in der Formeln und Erinnerungshilfen gebraucht werden, um einen sich immer verändernden und niemals gleichen Text vorzutragen. Andererseits zeigt er, wie durch Schreiben als technologischem Entfremdungsprozess Bewusstseinsveränderungen entstehen und analytisches Denken geschult wird.

Die Gewöhnung an neue Medien ist dabei nicht immer ganz einfach:
User-Helpdesk im Mittelalter from Jonas Köhne on Vimeo.

Lesen als kulturelle Praxis ist eine Fähigkeit die sich nur langsam verbreitet hat. Lange war die Fähigkeit zu lesen nur wenigen vorbehalten und zudem ein Akt der “Vermündlichung”. Denn es wurde nicht leise für sich, sondern laut für viele gelesen. Viele Texte spielen deshalb auch lange mit dem Zwischenstadium von geschriebenem und gesprochenem Text. Im Gegensatz zur Geschichte des Mediums Buch ist allerdings auch die Geschichte der Praxis des Lesens nur schlecht erforscht. Dies liegt unter anderem daran, dass es nur wenige geeignete Quellen gibt, anhand derer die historische Entwicklung des Lesens untersucht werden könnte.

Vom Märchenleser zum Serienjunkie (3)

Erzählen und genießen

Poetry Slams zeigen es besonders deutlich: Erzählungen machen erst dann Spass, wenn das Zusammenspiel aus guter Performance und Publikum stimmt.

Der Vortragende braucht dabei einen großen Wissensfundus des “Sprechen Könnens”. Denn er oder sie wird ständig danach beurteilt, ob die sich verändernden Sprachnormen beherrscht werden. Saussures System von langue (oder auch dem System einer Sprache) und parole (oder auch: Sprache, wie sie tatsächlich gesprochen wird) kann auf das Erzählen übertragen werden. Als langue wäre dann die Kompetenz einer Sprecherin zu erzählen zu betrachten, die vor allem durch Zuhören und Zusehen erworben wird. Als parole dagegen müsste der tatsächliche Vorgang des Erzählens betrachtet werden. Während Kinder meist ohne Hemmungen eigene Geschichten erzählen, haben inzwischen eine erstaunlich hohe Anzahl an Menschen eine Scheu davor vor Publikum zu erzählen. Allerdings lässt sich beobachten, dass die Möglichkeit Erzählungen im Internet, ohne face-to-face-Situation, darzustellen, solche Hemmschwellen abbaut. Menschen, die regelmäßig erzählen, entwickeln sich schnell zu Spezialisten. Die meisten Menschen bleiben aber eher passive Genießer.

Die wohl älteste und heute weitestgehend ausgestorbene Form des Erzählens sind Epen. In Serbien lassen sich allerdings noch epische Erzählformen finden:

Solche Erzählungen beruhen auf bestimmten Formeln, die im Vortrag nur noch zusammengeführt werden müssen. Denn die Handlung ist zu lang, die Erzählstränge zu komplex und die Zahl der Charaktere zu hoch, als dass diese Geschichten auswendig gelernt werden könnten. Durch Versmaß, Rhythmus und die Begleitung der Erzählstimme mit einem rhythmischem Instrument wird die Erzählung allerdings so strukturiert, dass sie erfolgreich vorgetragen werden kann. Durch den mündlichen, nicht-auswendig-gelernten Vortrag sind alle Erzählungen einzigartig und von einander unterschiedlich.

Typisch für mündliche Performance sind daneben auch so genannte “disclaimer of performance” in denen ein mögliches Scheitern angekündigt wird und die Erwartungen an die Erzählung herabgesetzt werden. Diese Methode der Absicherung schafft eine Erzählsituation, in der es leichter möglich wird erfolgreich zu erzählen. Denn eine Erzählerin hat auch eine Verantwortung gegenüber ihrem Publikum.

Das Publikum der verschiedensten Erzählsituationen ist bisher noch kaum erforscht. Sicher ist nur, dass auch das Zuhören erlernt wird und dass die Zuhörer kompetent beurteilen können, ob eine Erzählerin gut oder schlecht ist. Mit ihrer Reaktion können sie die Performance der Erzählerin entscheidend beeinflussen.

Die Stimme ist (abgesehen von Schrift) das wichtigste Medium des Erzählens. Dabei sind mündliche Erzählungen die längste Zeit flüchtig und nicht festhaltbar. Erst Grammophon, Radio und Fernsehen und die verschiedenen Techniken des Aufzeichnens von Stimmen machen Erzählungen reproduzierbar. Während Märchen heute vor allem in Buchform (und damit in festen, nicht variablen Formeln) rezipiert und wiedergegeben werden, geht dabei häufig verloren, dass gute Stimmen beinahe jeden Inhalt wiedergeben können, ohne dass das Zuhören langweilig wird.

Leseliste (12)

Gelesen:

Delphine in der taz. Delphine sind dumme Fische – oder so.

Väterschaft. Irgend ein Mann hat irgendwo einen Artikel geschrieben, in dem er sich beschwert, wie arm er als Vater doch dran ist, weil er ständig bevormundet würde. Anatol Stefanowitsch schreibt seine deutlich anderen Beobachtungen dazu auf.

Außerdem für die Uni (Seminar Forschen im Netz) gerade wissenschaftliche Texte zu Facebook. Zum einen dazu, wie Facebook in Trinidad von verschiedenen Menschen zu verschiedenen Kommunikationszwecken genutzt wird: Daniel Miller Tales from Facebook. Zum anderen wie Facebook sich auf Liebesbeziehungen und besonders deren Ende auswirkt: Ilana Gershon The Breakup 2.0. Dass sich das Medium auf Botschaft auswirkt, ist jetzt ja keine besonders neue Erkenntnis. Interessant ist aber doch, dass sich durch die neuen Medien das Verständnis von Öffentlichkeit verändert. Während das tradtionelle Verständnis von Öffentlichkeit bedeutet, dass ich als Sprecher einem anonymen Publikum gegenüber stehe und deshalb meine Botschaft eben im Normalfall gerade nicht privat halte, gibt es bedingt durch Blogs und soziale Netzwerke ein anderes, neues Verständnis von Öffentlichkeit. Auch wenn eine Nachricht vielleicht allgemein öffentlich zugänglich ist, wird sie doch für eine bestimmte Gruppe geschrieben, von der bekannt ist, dass sie Zugang zu dem Medium hat, in dem die Nachricht veröffentlicht wird. Das kann in der Folge zu Konflikten führen, wenn andere als die intendierten Gruppen die Nachrichten lesen. Man denke an die Diskussionen um Partybilder auf Facebook etc. Die Partybilder sind offensichtlich für die Gruppe der Peers auf Facebook intendiert, werden aber problematisch, wenn andere Gruppen (Eltern/Arbeitgeber/etc.) auch darauf Zugriff bekommen.

 

Außerdem heute im Internet gefunden:

Vom Märchenleser zum Serienjunkie (2)

Erzählen und Erkennen

In der ersten echten Sitzung (die erste Sitzung im Semester dreht sich üblicherweise ja vor allem um Organisationskram) ging es darum, wie bestimmte Erzählformen erlernt werden: Das Ohr ist dabei das wichtigste Sinnesorgan. Über das Ohr werden sowohl die inhaltlichen als auch die formalen Aspekte des Erzählten aufgenommen und verarbeitet. Das Interesse am Erzählten entsteht dabei über Reime, Sprachmelodie und Rhythmik (also die Form des Erzählten), die das Vergnügen an dem, was man hört, hervorrufen.

Das Video What does the fox say von Ylvis (aktuell über 230 Millionen Klicks auf Youtube) ist laut der Analyse unserer Dozentin deshalb so erfolgreich, weil es sowohl kindlich, als auch rockig, als auch parodistisch ist.

Interessant dabei ist allerdings, dass die im Vidoe eigentlich assoziierten Kindheitserinnerungen an Kinderreime eigentlich national unterschiedlich sind. Der internationale Erfolg ist möglich, obwohl kein einheitlicher Wissensvorrat angesprochen wird. Die assoziierten Kinderreime (Beispiel Das ist der Daumen) sind übrigens immer kleine Geschichten. Letztendlich ist aber noch gar nicht vollständig erforscht, welche Wirkung solche kleinen Lieder und Reime beim Spracherwerb kleiner Kinder haben.

Auch viele der kleinen Geschichten, die Kindern erzählt werden sind nicht erforscht. Die Erzählforschung beschäftigt sich zwar mit so genannten einfachen Formen, aber endlose Geschichten (z.B. der Hohle Zahn, hier in einer modernen Parodie), Ketten- oder Rundmärchen werden dabei übersehen. Die Volkskunde beschäftigt sich zwar schon lange mit verschiedenen Erzählformen, hat dabei aber lange nur “echte mündliche Erzählungen” in den Fokus genommen und multimediale Formen vernachlässigt.

Mündlich überlieferte Geschichten werden schon seit der Rennaissance gesammelt und publiziert, aber erst die Gebrüder Grimm systematisieren und verwissenschaftlichen dies. Sie haben ein breites Netzwerk von Erzählern und können so beispielsweise regionale Verbreitung und Unterschiede von Erzählstoffen untersuchen. Allerdings muss festgehalten werden, dass bei dieser Form der Beschäftigung mit Erzählungen der Fokus auf den Erzählungen an sich liegt. Die Erzähler, ihre Performanz und auch die Zuhörer werden nicht weiter untersucht.

In den 1920ern werden vornehmlich Formen und Strukturen von Erzählstoffen untersucht. Propp entwickelt die Märchenformel (vom Mangel über eine Reihe von Prüfungen zum Happy End), Jolles beschreibt die einfachen Formen. Diese sind seiner Meinung nach nicht kulturell erworben, sondern “natürlich” und “immer schon vorhanden”. Das soll heißen, dass Menschen immer auf diese Erzählformen zurückgreifen würden. Tatsächlich muss jedoch die Zeit- und Epochenabhängigkeit von Erzählformen ebenso berücksichtigt werden (die Mythe ist heute doch eher eine ausgestorbene Gattung), wie die Tatsache, dass unterschiedliche Sprachssysteme unterschiedliche Erzählformen hervorbringen.