Tag Archives: Erzählungen

Vom Märchenleser zum Serienjunkie (6)

Angst und Horror, Rührung und Schmerz

Wie kommt es, dass echte Angst und echter Horror psychisch äußerst anstrengend sind, fiktive Angst und fiktiver Horror dagegen sehr beliebt?

Angst, so die eine These, entsteht durch die Verlusterfahrung, die jeder Mensch bei seiner Geburt macht. Angst, so die anderer These, ist immer die Angst gefressen zu werden. Aus kulturanthropologischer Sicht sind diese beiden Vorstellungen zwar zu weit gegriffen, gesellschaftlich sind sie jedoch durchaus populär. Während also nicht so ganz klar ist, wie Angst ursprünglich entsteht, kann aber beobachtet werden, dass Erzählungen die Möglichkeit bieten, Angst sekundär zu erleben. Die menschliche Fähigkeit sich Emotionen vorzustellen und fast identisch zu erleben, macht es möglich, dass Emotionen erlernt werden können.

Menschen tendieren darüber hinaus dazu, bewusst nach Formaten zu Suchen, die bestimmte Emotionen hervorbringen.

Allerdings sind unterschiedliche Emotionen unterschiedlich leicht öffentlich auszuführen: Lachen ist beispielsweise eine deutlich einfachere und akzeptierte Emotion als Weinen. Hinzu kommt, dass durch Erzählungen hervorgerufene Tränen und Rührung gleichzeitig das Gefühl hinterlassen, der Geschichte auf den Leim gegangen zu sein.

Bestimmte erzählerische Genres haben besonders ausgeprägte gesellschaftliche Funktionen. Mythen beispielsweise erzählen vom Ursprung der Welt und machen die Zukunft ertragbar, indem sie ritualisierende Wiederholungen einbauen und Tod und Nachleben erklären.

In der Folge wird in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen häufig auf Erzählungen zurückgegriffen, als wären die in den Erzählungen transportierten Inhalte absolute Wahrheiten, um so bestimmte Positionen zu begründen.

Unterhaltung ist häufig nur die oberflächliche Funktion von Erzähltem. Stattdessen geht es darum bestimmte kulturelle Praxen zu validieren, Institutionen und Regeln zu erklären und legitimieren. Erzählungen haben also gewisse erzieherische Funktionen, indem sie Alltagswerte und Verhaltensweisen vermitteln. Diese verschiedenen Funktionsebenen von Erzählungen sind aber miteinander verschlungen und häufig nicht so einfach isolierbar.

Erzählungen die Angst hervorrufen, um somit Strategien der Angstbewältigung zu vermitteln, sind sowohl historisch als auch aktuell sehr populär. Ob es sich um Sagen von schlechten Herrschern, gefährlichen Berufen und Monstern oder um die Gefahr neuer Technologien und gefährlichen fremden Kulturen handelt, als Konstante bleibt immer die Warnung vor Sittenverfall und Blamage.

Vom Märchenleser zum Serienjunkie (5)

Technische Innovationen und Sinnesarbeit

Durch Medien werden Erzählungen verändert.

Im Kommunikationsmodell nach Jacobson steht zwischen dem Sender und dem Empfänger einer Nachricht nicht nur die Nachricht selbst, sondern auch ihr Kontext, ihr Übermittlungskanal und ihr Code. Erst aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Vermittlungsaspekte ergibt sich die eigentliche Botschaft.

Durch den Druck verändert sich so zum Beispiel auch, wie Geschichten vorgetragen werden:

Die Zuhörer können jetzt nicht nur der Geschichte zuhören und eigene Bilder im Kopf haben, sondern bekommen Illustrationen mitgeliefert. Aus heutiger Sicht mag dies banal und wenig imposant wirken, aber historisch gesehen sind in einer Zeit der Bilderarmut solche Geschichten mit gelieferten werden sehr einprägsam.

Mit dem Buchdruck wird schließlich der Zugang zu Wissen für breite Bevölkerungsschichten revolutioniert. Neben Enzyklopädien und der Bibel ist plötzlich auch Literatur leichter zugänglich. Kolporteure verbreiten Volksbücher und andere Geschichten als Hausierer. Die Zensurbehörden versuchen dabei mit pädagogischen Maßnahmen auf die verbreiteten Inhalte einzuwirken. Gleichzeitig werden als minderwertig verschrieene Bücher aber auch von einer intellektuellen Oberschicht interessiert gelesen.
Die Kritik am billigen Massenvergnügen endet dabei allerdings nicht mehr, sobald sie einmal begonnen hat. Während früher besonders Unterschiede zwischen „hoher“ und „populärer“ Literatur gezogen wurden (oder dem literarisch wertvollen Drama im Gegensatz zum „Schundroman“), wird Medienkritik heute besonders am Fernsehkonsum sichtbar. Allerdings ist auch hier ein Umbruch zu spüren: Etwa seit 2000 entsteht „Quality TV“, wo bestimmte Serien als besonders herausragendes Erzählen interpretiert werden. Dies gilt zum Beispiel für Sorpanos, Mad Men oder auch Sherlock. Man könnte nun unterstellen, dass dieser Aufwertungsprozess hauptsächlich das Ziel hat, auch hochkulturell-positionierten Fernsehkritikern zu ermöglichen ohne schlechtes Gewissen Serien zu konsumieren.

Das steigende Tempo in der Produktion von neuen Geschichten (Serien!!) verändert die Erwartungen der Konsumenten an Geschichten.
http://www.youtube.com/watch?v=YlrP2IR58