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Vom Märchenleser zum Serienjunkie (8)

Kontexte und Rezeptionswissen: Von Großmutters Schoß zu Kino und Fernsehen

Die Ever After High Filme sind „intertextuell“ und intermedial. Zum einen greifen sie das Genre des High-School-Movies auf, zum anderen werden Märchencharaktere aus dem Medium des Märchens in das des Films übertragen. Die Figuren können im Film nur erkannt werden, weil das kulturell notwendige Kontextwissen vorhanden ist.

Erzählungen wird häufig der Aspekt von Tradierung und Tradition zugeschrieben. Allerdings gibt es keine „reine“ Tradition, wie sie auch in der Wissenschaft bis in die ‘60er angenommen wurde, da es auch keine „Originaltexte“ gibt. Texte werden beim erzählen immer verändert, neu geformt, verlängert, gekürzt. Jedes Vortragen eines Textes macht diese Performanz zu einem ephemeren Original. Erst mit der Veränderung der Medien, die Texte haltbar und reproduzierbar machen, entsteht überhaupt die Frage nach dem Copyright und damit die nach dem Original eines Textes.

Typische Rezeptionskontexte sind die Familie oder die Bühne. Wird in der Familie erzählt, ist das intime Setting und das Zuhören wichtiger, als die Herkunft der Geschichte. Die Erzählstimme wechselt zwischen verschiedenen Personen und im Gespräch wird häufig erst Ausgehandelt, was die richtige Geschichte ist. Im Gegensatz dazu schaffen Bühnen eine Hierarchie zwischen Zuschauern und Sprechern, die Autorität über das Erzählte haben. Allerdings gibt es auch hier Formen, bei denen die Interaktion zwischen Publikum und Performierenden gewünscht ist, wie beispielsweise im Kasperletheater.

Durch Leinwände und Bildschirme werden die Körper der Zuhörenden diszipliniert. Kinos haben den Anspruch Filmtheater zu sein und zwingen die Körper des Publikums in eine bestimmte formelle Haltung, die auf die Leinwand ausgerichtet ist (Gleichzeitig schaffen sie aber mit Popcorn und Cola ein informelleres Setting, bei dem beim Genuss einer Erzählung gleichzeitig Essen konsumiert werden darf.) Mit der zunehmenden Alltagsintegration von Bildschirmen durch die Allgegenwart von Computern und Smartphones wird der Rezeptionskontext von medialen Inhalten zunehmend informeller. Auch hier lässt sich eine Gleichzeitigkeit im Konsum von Geschichten und Nahrung beobachten. Wie sich diese geteilte Aufmerksamkeit auf Rezeptionsverhalten und Interaktion mit anderen auswirkt, ist allerdings noch nicht erforscht.

Wie Bachtin, Barthes und Kristeva in ihren Arbeiten zu Intertextualität herausstellen, sind Texte nicht ohne andere Texte vorstellbar. Alle Texte greifen immer auf andere Texte zurück. Dies kann strukturell, inhaltlich oder stilistisch geschehen. Aber auch die Performanz oder Inszenierung eines Textes kann auf andere Performanzen und Inszenierungen verweisen. Diese intertextuellen Bezüge sind dabei nicht immer positiv, sondern können auch als Abgrenzung vorhanden sein.

Der Begriff der Intermedialität ist die logische Erweiterung des Begriffs der Intertextualität. Nun geht es nicht nur um Bezüge zwischen Texten, die im selben Medium vorliegen, sondern zwischen Erzählungen, die in unterschiedlichen Medien präsentiert werden. Geschichten können Medienwechsel durchmachen, wenn zum Beispiel aus einem Comic ein Film wird. Wenn gewisse ästhetische Aspekte gekoppelt werden, werden die Anspielungen auf ein anderes Medium deutlicher. Die Shrek-Filmreihe ist ein gutes Beispiel für intermediale Übernahmen: Märchenfiguren werden aus Buchmärchen in den Film geholt, die Filme sind als Parodie auf die Disney-Märchenfilme zu sehen und es werden jede Menge Figuren aus anderen Erzählungen „ausgeliehen“. Durch solche intermedialen Verknüpfungen entsteht ein Sehgenuss speziell für Erwachsene, da zu ihrem Erkennen ein bestimmtes Vorwissen vorhanden sein muss.

Vom Märchenleser zum Serienjunkie (7)

Angstlust, also das Vergnügen daran sich freiwillig in Situationen zu begeben, in denen Angst empfunden wird, wird von Filmen durch verschiedene Erzählstrategien besonders gefördert. In Psycho wird beispielsweise schon durch die schwarz-weiß Bilder ein Entfremdungseffekt erzielt. Bestimmte Kameraperspektiven steuern die Perzeption des Zusehers. Die Inszenierung und besonders die Filmmusik machen die Erzählung eigentlich erst Angsteinflößend. Dabei wird geschickt mit erzählerischen Steigerungen gespielt, die üblicherweise zu Horrormomenten führen, ohne dass diese Erwartung dann eingelöst wird.

Humor und Aggression

Nach Propp und Jolles haben einfache Formen bestimmte Emotionen zugeordnet. Die Oberflächenstruktur der Erzählung bestimmt die hervorgerufenen Emotionen.
Das Kategorisieren von Erzählgattungen und die dadurch hervorgerufenen Erwartungen hat also eine gewisse Tradition

Bambi war 1942 der erste abendfüllende Tierfilm. Bambi meets Godzilla von 1963 wird bist heute auf der Liste der 50 besten je gemachten Cartoons geführt. Was auch die Menge der davon inspirierten Kurzfilme beweist.

Lachen gehört zu den Emotionen, die Menschen zu Menschen macht. Es ist eine „physische Reaktion auf eine kognitive Erfahrung“. Menschen lachen über Dinge, die ihnen Spass machen, um Konflikte abzuwenden, aus Erleichterung nach Angstsituationen. Lachen kann jedoch auch eine Drohgebärde sein oder Überlegenheit demonstrieren.

Verschiedene Wissenschaftler haben sich theoretisch mit dem Lachen auseinandergesetzt. Henri Bergson versuchte um 1900 eine Theorie des Komischen aufzustellen. Michail Bachtin hat mit seinen Forschungen zum Karneval Mitte des 20. Jahrhunderts das anarchische Potential von Lachen und Humor untersucht. Er stellt den Karneval als Zeit der sozialen Umkehr und der möglichen Tabuverletzungen heraus. Freud dagegen hat sich mit dem Witz als spezifischer Erzählgattung beschäftigt.

Humor wird seit dem 18. Jahrhundert ausgehend von England zur grundsätzlichen Einstellung gegenüber der Welt. Er bildet dabei einen psychischen Ausgleich. Die Fähigkeit Dinge mit Humor zu nehmen ist im Gegensatz zum Lachen allerdings nicht angeboren.

Komik wirkt in Erzählungen vor allem über den Intellekt. So wird zum Beispiel eine Einheit aus Gegensinnigem oder Inkongruentem gebildet oder starke Kontraste zwischen Inhalt und Stil verwendet, die dann verstanden und entschlüsselt werden müssen. Komik wird von Lust und einem positiven Lebensgefühl getragen, kann aber auch Aspekte von Aggression enthalten.

Humorvolle Erzählgattungen wie Witz, Schwank, Seemansgarn oder Lügenmärchen, arbeiten häufig mit Elementen der Statusgefährdung und Untergrabung. So beispielsweise bei der Erzählung von Majestix aus Asterix oder dem verkehrten Herrschaftsverhältnis in Jeeves and Wooster. (Der Trailer ist leider nur auf deutsch verfügbar, aber man sollte Jeeves and Wooster DRINGEND und am besten auf englisch angucken.)

Die Markierung als Witz im performativen Erzählrahmen macht es häufig möglich Dinge zu sagen, die anders nicht sagbar sind und schützt somit vor negativen Konsequenzen. Auch der Verweis darauf, dass mit dem Witz nicht primär eigene Gedanken wiedergegeben werden, hat diese Schutzfunktion.
Witze sind eine recht gut untersuchte Gattung, wie zahlreiche Witzsammlungen, Aufsätze und Publikationen belegen. Im Gegensatz dazu sind allerdings die Erzählkontexte und die Rezeption eher schlecht erforscht.

Psychologie und Psychoanalyse haben sich mit fantasievollen Erzählungen auseinandergesetzt. Freud sieht phantastische Erzählungen als Zeichen von Realitätsverlust und Produkt von Neurosen und Störungen. Das Lachen als Lustgewinn gegenüber unterdrückten (sexuellen) Bedürfnissen. Jung dagegen bewertet Fantasie positiv. Er sieht ihn fantasievollen Geschichten einen kollektiven Fundus angeborener Bilder (Archetypen).
Darüber hinaus wird auch immer wieder der hohe Nutzen von Erzählungen bei der individuellen Reifung betont. Bettelheim weist besonders auf den Nutzen von Märchen hin. Dass Märchen aktuell als besonders brutale Erzählungen angesehen werden können, ist ihm zufolge nicht so relevant, da Kinder diese Brutalität erkennen und verarbeiten könnten.

Vom Märchenleser zum Serienjunkie (3)

Erzählen und genießen

Poetry Slams zeigen es besonders deutlich: Erzählungen machen erst dann Spass, wenn das Zusammenspiel aus guter Performance und Publikum stimmt.

Der Vortragende braucht dabei einen großen Wissensfundus des “Sprechen Könnens”. Denn er oder sie wird ständig danach beurteilt, ob die sich verändernden Sprachnormen beherrscht werden. Saussures System von langue (oder auch dem System einer Sprache) und parole (oder auch: Sprache, wie sie tatsächlich gesprochen wird) kann auf das Erzählen übertragen werden. Als langue wäre dann die Kompetenz einer Sprecherin zu erzählen zu betrachten, die vor allem durch Zuhören und Zusehen erworben wird. Als parole dagegen müsste der tatsächliche Vorgang des Erzählens betrachtet werden. Während Kinder meist ohne Hemmungen eigene Geschichten erzählen, haben inzwischen eine erstaunlich hohe Anzahl an Menschen eine Scheu davor vor Publikum zu erzählen. Allerdings lässt sich beobachten, dass die Möglichkeit Erzählungen im Internet, ohne face-to-face-Situation, darzustellen, solche Hemmschwellen abbaut. Menschen, die regelmäßig erzählen, entwickeln sich schnell zu Spezialisten. Die meisten Menschen bleiben aber eher passive Genießer.

Die wohl älteste und heute weitestgehend ausgestorbene Form des Erzählens sind Epen. In Serbien lassen sich allerdings noch epische Erzählformen finden:

Solche Erzählungen beruhen auf bestimmten Formeln, die im Vortrag nur noch zusammengeführt werden müssen. Denn die Handlung ist zu lang, die Erzählstränge zu komplex und die Zahl der Charaktere zu hoch, als dass diese Geschichten auswendig gelernt werden könnten. Durch Versmaß, Rhythmus und die Begleitung der Erzählstimme mit einem rhythmischem Instrument wird die Erzählung allerdings so strukturiert, dass sie erfolgreich vorgetragen werden kann. Durch den mündlichen, nicht-auswendig-gelernten Vortrag sind alle Erzählungen einzigartig und von einander unterschiedlich.

Typisch für mündliche Performance sind daneben auch so genannte “disclaimer of performance” in denen ein mögliches Scheitern angekündigt wird und die Erwartungen an die Erzählung herabgesetzt werden. Diese Methode der Absicherung schafft eine Erzählsituation, in der es leichter möglich wird erfolgreich zu erzählen. Denn eine Erzählerin hat auch eine Verantwortung gegenüber ihrem Publikum.

Das Publikum der verschiedensten Erzählsituationen ist bisher noch kaum erforscht. Sicher ist nur, dass auch das Zuhören erlernt wird und dass die Zuhörer kompetent beurteilen können, ob eine Erzählerin gut oder schlecht ist. Mit ihrer Reaktion können sie die Performance der Erzählerin entscheidend beeinflussen.

Die Stimme ist (abgesehen von Schrift) das wichtigste Medium des Erzählens. Dabei sind mündliche Erzählungen die längste Zeit flüchtig und nicht festhaltbar. Erst Grammophon, Radio und Fernsehen und die verschiedenen Techniken des Aufzeichnens von Stimmen machen Erzählungen reproduzierbar. Während Märchen heute vor allem in Buchform (und damit in festen, nicht variablen Formeln) rezipiert und wiedergegeben werden, geht dabei häufig verloren, dass gute Stimmen beinahe jeden Inhalt wiedergeben können, ohne dass das Zuhören langweilig wird.