Vorlesen und Lesen – Bild, Schrift und Performanz
Fiction has two uses. Firstly, it’s a gateway drug to reading. The drive to know what happens next, to want to turn the page, the need to keep going, even if it’s hard, because someone’s in trouble and you have to know how it’s all going to end … that’s a very real drive. And it forces you to learn new words, to think new thoughts, to keep going. To discover that reading per se is pleasurable. Once you learn that, you’re on the road to reading everything. And reading is key.
Neil Gaiman im Guardian
Die Fähigkeit zu Lesen ist eine Schlüsselqualifikation. Nicht nur, weil man sich ohne lesen zu können nicht in unserer Welt zurecht findet, sondern auch, weil das Lesen fiktiver Texte die Phantasie und Vorstellungskraft fördert.
Schrift stellt die erste Revolution für die menschliche Begeisterung für Geschichten und Erzählungen dar. Denn nun können Geschichten festgehalten werden und “verschwinden” nicht mehr direkt, nachdem sie erzählt wurden. Tatsächlich stellen Geschichte und Geschichten neben Gesetzestexten die ersten aufgeschriebenen Texte dar. Die zweite Revolution ist dann der Buchdruck. Bald sind Geschichten nicht mehr nur einer kleinen Minderheit sondern für die breite Masse zugänglich.
McLuhan (the medium is the message) beschreibt, wie durch die Form des Mediums, in dem eine Botschaft transportiert wird, sich diese selbst verändert. Dabei spielt besonders die Halbarkeit von Trägermedien (Pergament vs. CD-Rom) und der Einfluss des Mediums auf die körperlichen Aspekte der Rezeption (Buch in der Hand vs. Reader) eine Rolle.
Die Verschriftlichung und die Möglichkeit des Alleine-Lesens kann dabei als erster Schritt zu Individualismus (oder negativer ausgedrückt zu Vereinzelung) gesehen werden. Durch die Rezeption fiktiver Texte für sich allein wird ein Ausbruch aus der Gemeinschaft möglich.
Walter Ong sieht in der Entwicklung der Medien keinen Übergang von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, sondern betont, dass geschriebene Texte mündlich vorgetragene ergänzen.
Er stellt einerseits die Dynamik des Mündlichen heraus, in der Formeln und Erinnerungshilfen gebraucht werden, um einen sich immer verändernden und niemals gleichen Text vorzutragen. Andererseits zeigt er, wie durch Schreiben als technologischem Entfremdungsprozess Bewusstseinsveränderungen entstehen und analytisches Denken geschult wird.
Die Gewöhnung an neue Medien ist dabei nicht immer ganz einfach:
User-Helpdesk im Mittelalter from Jonas Köhne on Vimeo.
Lesen als kulturelle Praxis ist eine Fähigkeit die sich nur langsam verbreitet hat. Lange war die Fähigkeit zu lesen nur wenigen vorbehalten und zudem ein Akt der “Vermündlichung”. Denn es wurde nicht leise für sich, sondern laut für viele gelesen. Viele Texte spielen deshalb auch lange mit dem Zwischenstadium von geschriebenem und gesprochenem Text. Im Gegensatz zur Geschichte des Mediums Buch ist allerdings auch die Geschichte der Praxis des Lesens nur schlecht erforscht. Dies liegt unter anderem daran, dass es nur wenige geeignete Quellen gibt, anhand derer die historische Entwicklung des Lesens untersucht werden könnte.