Die Einleitung findet sich hier. Den theoretischen Hintergrund behandle ich im Post Serien – Fans – Produsage.
*********Spoilers für The Reichenbach Fall
Die Frage danach, wie Sherlock Holmes den Sprung vom St. Barts Krankenhaus überlebt hat, beantworten die Fans zwar nicht in ihren Fanfictions, aber sie beschäftigen sich zwei Jahre lang, exzessiv damit. Nicht nur in Sherlock-Fanforen, auf Buzzfeed, Blogs, Tumblr (beispielsweise hier und hier), in diversen Youtube– Videos und in Frageforen, es gibt ganze Websites, die nur der Frage “How did Sherlock fake his deat” gewidmet sind– das Internet ist voll von Spekulationen, wie Sherlock wohl seinen eigenen Tod gefaked haben mag .
Die Fans spielen, ausgelöst durch das Ende der zweiten Staffel, The Great Game auf einer neuen Ebene. Statt aus der Perspektive von John Watson und Sherlock Holmes nicht aufgelöste Fälle zu erzählen, werden sie selbst zu den Detektiven und lösen ihren eigenen Fall. Angestachelt werden sie dabei noch von Steven Moffat, der einige Tage nach der Ausstrahlung der Folge, amüsiert über das sofort explodierende Rätselraten im Internet äußert „and there’s one clue that everyone’s missed. It’s something that Sherlock did that was very out of character, but which nobody has picked up on.“ Da Moffat niemals einen weiteren Tipp dazu gibt, was genau dieser übersehene Hinweis sein könnte, drehen und wenden die Fans die Folge immer und immer wieder auf der Suchen nach Aspekten, die sie noch nicht analysiert haben. Andererseits sind die Fans selbstironisch genug, ihr eigenes Verhalten zu beobachten und zu karrikieren:
Go on then…what are your theories=
Am intensivsten diskutieren Fans die Theorien dazu, wie Sherlock überlebt im Sherlock-Fan-Forum sherlock.boardhost.com. Neben allgemeinen Diskussions-Foren gibt es dort Unterforen für jede Staffel. Dort können die einzelnen Episoden diskutiert werden. Für die Theorien zu The Reichenbach Fall gibt es dort eine eigene Unterkategorie mit 82 Topics und insgesamt 2314 Beiträgen . Mit insgesamt über 4800 Beiträgen wird diese Folge nur noch von His Last Vow übertroffen, die mit knapp 6800 Beiträgen diskutiert wurde.
Die Schlüsselfragen, die sich die Fans auf der Suche nach der Lösung des Rätsels stellen sind: Springt Sherlock selbst vom Dach (und wenn ja, wie überlebt er)? Wer hilft Sherlock? Ist es tatsächlich Sherlock, den wir am Boden liegen sehen? Und natürlich: Was ist der Hinweise, das für Sherlock ungewöhnliche Verhalten?
Nachdem die Fans Sherlock beinahe überanalysiert haben, fassen sie die Ergebnisse ihrer Theoreien in vier verschiedenen Umfragen netter Weise auch gleich selbst zusammen (Klick aufs Bild führt zur Seite mit der Umfrage):
*********Spoilers für The Empty Hearse
Die Fans sind sich zwar tendenzell darüber einig, dass Sherlock selbst vom Dach gesprungen ist, aber streiten mit großem Enthusiasmus darüber, wie er den Aufprall so abfedert, dass er den Sturz überlebt. Eine Theorie, die im Forum selbst nicht besonders ausführlich diskutiert wird, aber später in der Serie aufgegriffen wird, ist, dass Sherlock mit Hilfe eines Bungee-Seils vom Dach springt . Ansonsten kreisen die Gedanken der Fans vor allem um einen Laster voll Müllsäcke, der in der Folge direkt neben der Stelle steht, an der später Sherlocks Körper zu sehen ist. Als Grund dafür wird unter anderem angeführt, dass der Truck zwei Mal beim wegfahren beobachtet werden kann . In diesem Zusammenhang wird auch über Editing-Fehler gesprochen. Beekeeper äußert:
Ha, I really really hope they avoided edit errors! I’m kind of assuming that they knew that this scene would be watched obsessively by fanboys and fangirls and hopefully didn’t put in stuff like jumping trucks by accident I am assuming its very carefully crafted and I’ll be really disapointed if it turns out he has unmentioned superpowers or something deus ex machina.
Der Gedanke, dass Sherlock in den Laster selbst springt, wird schnell wieder verworfen, weil der Laster zu weit vom Gebäude entfernt steht. Stattdessen wird im gleichen Thread vorgeschlagen, dass Sherlock auf ein Sprungkisssen oder ein vom Homeless Network gehaltenes Sprungtuch fallen könnte. Um besser analysieren zu können, was passiert sein könnte, wird auf das Blog von Quarryquest verlinkt, die in einer ausführlichen Fotodokumentation das Filmset von St. Barts beschreibt. Allerdings kritisiert hypergreenfrog, dass die Bilder zwar nett seien, aber nichts Neues zu den Theorien hinzufügen würden. Zur Analyse des Stets gehört auch die frage nach den Kreidemarkierungen am Boden, die als Hinweis dafür interpretiert werden, dass an dieser Stelle das Sprungkissen oder -tuch positioniert war. Denn wenn man Sherlock am Boden sieht, liegt er innerhalb der Markierungen. Die Fans stellen dann fest, dass tatsächlich keine Kreidemarkierungen sondern Pflastersteine zu sehen sind und stellen sich darauf hin die Frage, ob dies die Theorien falsifiziere oder nur geschickt die gegebenen Örtlichkeiten ausnutzt.
Mit ihrer detailverssenen Analyse erinnern die Fans von Sherlock ein bisschen, an die von Survivors. Survivors ist ein Dschungelcamp-Vorläufer, bei dem verschiedene Kandidaten an einen exotischen Ort gebracht wurden und dann in Gruppen gegeneinander ums „Überleben“ kämpfen mussten. Eine Gruppe von Fans dieser Serie hat das im Internet üblicherweise verschmähte „Spoiling“ zum Spiel gemacht. Ziel davon war, vor dem Ende Ausstrahlung herauszufinden, wer den Preis als Überlebender gewinnt. Möglich wurde dies, weil die Folgen vor Ausstrahlung abgedreht wurden . Dazu wurde besonders nach Drehorten und möglichen Kandidaten und deren Veränderungen während des fraglichen Drehzeitraumes fahndet. Die Fans nutzen dazu typische produsage-Methoden, indem jeder das Wissen beitrug, das er selbst einbringen konnte. Es entstand eine Art Kampf gegen die Produzenten, die, damit die Serie interessant blieb, immer mehr falsche Fährten für die Fans einbauen mussten .
Während den Fans von Survivors als Reality-TV echte Menschen und Orte für ihre Analysen zur Verfügung standen, versuchen die Fans von Sherlock ähnliches für eine fiktionale Geschichte zu leisten. In der Folge müssen sie auch auf die Methoden der Erzählforschung und Medienanalyse zurückgreifen. Sie tun dies, wenn sie Schnitte wie bei der schon erwähnten Truck-Theorie analysieren oder die Folge in verschiedenen Geschwindigkeiten ansehen: „super slo-mo on a Blu-ray will show it“ . Moriartys „IOU“-Äußerung und die in der Folge mehrfach erwähnten Märchen der Grimms werden als Leitmotive betrachtet. Besonders schön ist dies in Pretty Things & Monsters ausgeführt, auch wenn die Fans auf sherlock.boardhost einwenden, dass sich diese Theorie zu weit vom Doyleschen Kanon entfernt, an den sich Moffat und Gatiss üblicherweise halten .
Bei der Suche nach Hinweisen und Zeichen kommt es auch schon mal zu Überinterpretationen. So stellt Irene Adler beispielsweise die Frage, ob Sherlock etwas in der Hand hält, während er mit Moriarty auf dem Dach steht und redet. Über ca. 50 Einträge hinweg diskutieren verschiedene Menschen darüber, ob tatsächlich ein Gegenstand zu sehen ist, oder ob es sich nur um Schatten und Lichtreflexe handelt und illustrieren ihre Beiträge mit Youtube-Videos und Screenshots. Am Ende herrscht dann aber doch Einigkeit, dass der Wunsch danach etwas zu sehen die Deduktionsfähigkeit etwas eingeschränkt hat: „Pity, I was really wanting to see something“
Die Fans sind sich also vollkommen einig, dass Molly Sherlock auf jeden Fall geholfen hat. Hinzu kommt eine große Mehrheit, die der Meinung ist, dass Sherlocks Homeless Network im Prinzip die gesamte Straße abgesperrt hat (bespielsweise hier und hier. Kazza474 argumentiert, dass Mollys und Mycrofts Mitwissen und Mithelfen nötig ist, damit keine Fragen von offizieller Seite gestellt werden und Sherlock offiziell als tot gelten kann.
Eine weitere wichtige Frage für die Fan ist, ob Sherlock nicht nur selbst springt, sondern auch derjenige ist, der am Boden liegend gesehen werden kann. Und falls er es tatsächlich selbst ist, wie er für John, der seinen Puls nimmt, überzeugend tot erscheint.
Die beiden beliebtesten Theorien (gegen die jeweils ungefähr so viele Gegen- wie Pro-Argumente angeführt werden) sind, dass Sherlock vor seinem Sprung das Gift Rhododendrum Ponticum schluckt , beziehungsweise dass er mit Hilfe eines Gummiballs unter der Achsel seinen Puls stoppt. Die Theorie mit dem Gummiball entsteht, weil Sherlock früher in der Folge gezeigt wird, wie er im Labor einen Gummiball wirft, darüber hinaus wird angeführt, dass es ein funktionierender Taschenspieler-Trick ist um einen Puls zu stoppen Allerdings wird als Gegenargument angeführt, das Sherlock während des Falls den Ball nicht verlieren dürfte und wo er ihn so sicher aufbewahrt . Auch persönliche Vorlieben spielen darüber hinaus eine Rolle. Sherlockian111 merkt an:
I don’t particularly like the ball-stopping-the-pulse theory. For one, where would the ball be when Sherlock is falling? Becuase if you have the ball-stopping-the-pulse theory, then the body falling is definitely Sherlock’s. The ball most likely would not stay in place while he was falling, and we don’t see him put it into place when he is lying on the ground. Also, that theory (to me) just doesn’t seem very Sherlock? I don’t know, it could be right, but I don’t know…
Der Vollständigkeit wegen sei auch noch die letzte Umfrage erwähnt, auch wenn die Frage danach, womit genau Molly Sherlock hilft, in den Beiträgen, die ich gelesen habe, nur nachrangig diskutiert wurde:
Die wichtigste Frage, die beinahe alle Beiträge durchzieht, entsteht durch die oben zitierte Bemerkung von Moffat, dass ein Schlüsselhinweis etwas sei, das alle übersehen hätten und das für Sherlock untypisch sei. Allerdings analysieren die Fans die Folge so lange, bis ihnen jedes Detail uncharakteristisch erscheint und sie sich völlig mit der Folge befremdet haben . Als untypisches Verhalten wird beispielsweise Sherlocks Umgang mit Molly interpretiert, der auch als Hinweis dafür gesehen wird, dass Molly zu Sherlocks Mitwissern und Helfern gehört. Allerdings bemerken die Fans das so früh, dass sie es nicht als den Hinweis interpretieren, den Moffat meint. Eine der Theorien, die jedoch immer wieder vertreten werden, ist, dass es für Sherlock ungewöhnlich sei, so sehr im Rampenlicht zu stehen, wie er es zu Beginn von The Reichenbach Fall tut. Während er in The Great Game John noch anweist: „Don’t make people into heroes John. Heroes don’t exist and if they did I wouldn’t be one of them.“, lässt er sich nun zum Helden stilisieren. Kazza474 interpretiert dies als Methode, um Moriarty dorthin zu bekommen, wo Sherlock ihn braucht, um seine Freunde zu retten:
Sherlock becoming a hero and being splashed across the media would have irked Moriarty to no end. (I don’t think Sherlock was too thrilled with it either, but a man’s gotta do what a man’s gotta do!)
Denn während die Fans zwar nicht wissen, wie Sherlock sich (nicht) umbringt, so ist doch sehr deutlich klar, weshalb er es tut: Um Moriarty loszuwerden und seine Freunde vor dessen Assassins zu retten, muss Sherlock sterben.
Aside: Sherlock Holmes und Doctor Who
Um das Forschungsfeld einzuschränken (und weil der Hauptteil der Theorien doch innerhalb des Sherlock-Universums bleibt), habe ich ich mich nicht weiter damit auseinander gesetzt, welche Theorien zu Sherlocks Überleben es gibt, die das Universum verlassen. Weil sich aber die Fan-Gemeinden von Sherlock und Doctor Who so stark überschneiden – was schon dadurch gefördert wird, dass Doctor Who als Sci-Fi-Hommage an Sherlock Holmes begann und dass aktuell beide Serien von Steven Moffat und Mark Gatiss geschrieben werden – hier doch noch ein besonders schönes Beispiel, dafür wie Wholocks (also Fans beider Serien), das Sherlocks Überleben begründen :
Oder mit Bild-Material aus Doctor Who (2005) S06E02 The Day of The Moon:
In dieser Episode von Doctor Who wird tatsächlich die Protagonistin River Song nach ihrem Sprung von einem Wolkenkratzer gerettet, indem der Doctor seine Raum-Zeitmaschine TARDIS so parkt, dass River Song in den Swimmingpool fallen kann (Mehr zum Plot bei Wikipedia). Der User Wholocked kommentiert in seinem Post das gif so:
I already know how he survived. The Doctor parked the Tardis on the side of the building…see?
In The Empty Hearse lässt sich übrigens auch ein Referenz auf diese Fan-Theorie finden, denn auf Andersons Wand mit Zetteln gibt es ein Bild, das eine Tardis zeigt. (Von den Fans wird das wiederum in diesem Thread diskutiert)
Red Herrings, falsche Fährten und Editing
Ein großes Problem für die Fans bei der Analyse der Folge stellten so genannte Red Herrings , oder falsche Fährten nach. Denn wie kazza474 bemerkt:
Red herrings are the only defence Moftiss has against failure for this series. To tell the tales ‘straight’ would soon become boring. They have an inquiring audience that demands to be tested. I’d say the ‘misleads’ are more the fault of the viewer for ‘assuming’ which is something Sherlock would never do.
*********Spoilers für The Empty Hearse
Da allerdings nur im Nachhinein gesagt werden kann, was echte Hinweise und was Red Herrings sind und Moffat und Gatiss bisher noch nicht aufgelöst haben, wie Sherlock es schafft zu überleben, kann bisher nicht gesagt werden, welche Hinweise falsche Fährten sind. Sicher ist jedenfalls, dass die Fans jeden einzelnen Hinweis, der zu finden ist, analysiert haben.
*********Ende Spoilers für The Empty Hearse
Ein Beispiel für einen Red Herring, aus der Serie, der schon gelöst ist, ist dass Mycroft in A Study in Pink zunächst als „criminal master mind“ vorgestellt wird, bis sich schließlich herausstellt, dass es sich um Sherlocks Bruder handelt, während Jim Moriarty in The Great Game zunächst als harmloser, wenn auch seltsamer Freund von Molly vorgestellt wird .
Neben Red Herrings sind besonders Fehler beim Dreh und Schnitt für die Fans ärgerlich. Gerade in einer Folge, die so detailliert analysiert wird, finden Fans solche Fehler, wie oben bereits erwähnt, ärgerlich. Dennoch gibt es verschiedene Stellen, an denen die Fans von Fehlern ausgehen. So gibt es beispielsweise einen Screenshot von Martin Freeman, auf dem er offensichtlich einen Hörer im Ohr hat. Die Fans beschreiben diesen aber als „Nothing to do with any theories just a mistake we were not ment to notice.“ oder „To me, this “ear piece” – if it happens to be an actual one – isn’t something John’s wearing but Martin.at the utmost.“ .
Weiter geht es mit Teil 2 meiner Analyse Be careful what you post on Tumblr….