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Serien, Fans und Produsage

Die Einleitung zu diesem Artikel findet sich hier.
 

Fernsehen findet heute eigentlich im Internet statt. Fans streamen ihre Lieblingsserien, sammeln und diskutieren in Wikis und Foren jedes Detail, das es über Schauspieler, Produzenten und Inhalte zu finden gibt, und führen darüber hinaus die Geschichten in Fanfiction, Fan Art und Fan Videos selbst fort. Serielles Erzählen im TV, Fans und Formen von Produsage haben die Medienlandschaft verändert.

Serialität

Im Tagungsband „Populäre Serialität“ betont Frank Kelleter den Zusammenhang von Populärkultur und Serialität 1. Serien zeichnen sich dadurch aus, dass sie fortlaufenden Geschichten sind, die der Wiedererkennbarkeit wegen standardisiert sind, gleichzeitig aber immer neue Wendungen nehmen müssen, um spannend zu bleiben 2. Serien sind leicht in das Alltagsleben zu integrieren und können

eine geradezu epidemische, d.h. außergewöhnlich reproduktionsintensive und differenzierungsfreudige Wirkung auf die alltägliche und zunehmend auch die öffentliche Kommunikation ihrer Leser, Zuschauer und Produzenten entfalten“ 3

Bedingt wird dies vor allem durch einen Veränderung des seriellen Erzählens, die vielfach an der amerikanischen Serie The Sopranos (HBO 1999-2007) festgemacht wird. Im so genannten Quality-TV werden „narrativ komplexe Sendungen“ 4 gezeigt, die sich deutlich von konventionellen Produktionen unterscheiden: Sie kombinieren episodische Handlungsstränge mit multiepisodischen Handlungsbögen 5 und haben eine gesteigerte Selbstbezüglichkeit 6. Durch diese veränderte Erzählstrategie verschiebt sich das Interesse der Zuschauer von den Erzählinhalten auf die Art und Weise, wie erzählt wird 7. Serien die so erzählt werden, zeichnen sich durch eine hohe „rewatchability“ 8 aus, Fans gucken diese Serien wieder und wieder und können dabei immer neue Facetten der Erzählung entdecken. Diese Fans werden auch selbst aktiv, indem sie über die Serien diskutieren. Ihr Feedback wird für die Autoren und Autorinnen der Serien und den weiteren Verlauf der Geschichten wichtig 9. Aber auch für die Verbreitung der Serien über verschiedene mediale Systeme, unterschiedliche Medienökonomien und nationale Grenzen ist die aktive Teilnahme der Seriengucker wichtig 10.

Fans

Fans tun ganz explizit das, was alle anderen auch tun: Sie beschäftigen sich jeden Tag mit Texten und Medien. Sie gehen mit diesen (und ihrem Fan-Sein) spielerischen um und nehmen sich selbst meist nicht allzu ernst 11. Da Fans den medialen Wandel repräsentieren werden sie für die Rezeptionsforschung besonders relevant 12. Faye beschreibt in ihrem Vorwort zu Sherlock and Transmedia Fandom die Gefühlslage von Fans:

„What we want is more stories, and we will find them – one way or another, and by various methods, each suited to our nature and our age and our tastes and our creativity.“ 13

Eine besondere Rolle bei der Fortführung von Geschichten durch Fans spielt Fanfiction. Diese erfüllt nicht nur das Bedürfnis von Fans nach immer weiteren Geschichten. Durch Fanfiction füllen Fans auch Lücken die in der seriellen Erzählung vorhanden sind 14, oder interpretieren Figuren und Handlungen ganz anders als im Original, wenn ihre Leseerwartung von den Autoren nicht erfüllt wird 15. Durch das Internet und Seiten wie fanfiction.net w oder livejournal.com können Fans dabei nicht nur ihre Geschichten besonders leicht veröffentlichen, sondern auch gegenseitig kommentiern und so verbessern und verändern. Auch multible Autorenschaften und intertextuelle Verweise werden auf diesen Plattformen erleichtert 16. In ihrem Band zu Fanfiction schreibt Jamison: „Sometimes, at some of its best times, fanfiction is a game writers play for the game‘s own sake.“ 17.

Zwischenbemerkung: Sherlock Holmes und Fanfiction

Während Harry Potter zumindest auf fanfiction.net, einer der größten Seiten auf der Fanfiction publiziert werden kann, mit über 680000 Geschichten 18 das Buch mit den meisten Fanfictions ist, kann Sherlock Holmes auf eine sehr lange Geschichte der Pastiches und Fanfictions zurückblicken 19. Sherlock Holmes, ist nach Jamison, die Figur mit den meisten spin-offs, Pastiches und Adaptionen in den unterschiedlichsten Medien 20. Diese Geschichten wurden in Fanzines, also von Fans herausgegebenen Magazinen, veröffentlicht. Üblicherweise erzählen sie im Doyleschen Kanon erwähnte, aber nicht ausgeführte Fälle 21. Als Modus der Erzählung wählen die Fans dabei den gleichen Stil, wie A.C. Doyle 22. Sie spielen „The Great Game“, in dem sie die Geschichten von Sherlock Holmes so betrachten, als hätte es Sherlock Holmes und John Watson tatsächlich gegeben. Doyle wird in diesem Kontext nur noch zum Chronisten, der reale Ereignisse aufschreibt 23. Weil sich Fans durch diesen Schreibmodus besonders intensiv mit den Figuren und dem Stil des Kanons auseinandersetzten, haben sie ein „even more complicated relationship with the fidelity of adapitions than does the average critical fandom.“ 24
Im Internet finden sich Geschichten zu Sherlock Holmes allerdings erst, seit der Veröffentlichung von Sherlock (BBC 2010-) 25. Auf fanfiction.net gehört Sherlock mit 46200 Geschichten zu den Top 5 der Serien 26 Grund für diese extrem Hohe Zahl an Geschichten ist, dass Sherlock mit 3 Staffeln pro Episode eine ausnehmend kurze Serie ist und die einzelnen Staffeln darüber hinaus auch noch mit einem Abstand von zwei Jahren gesendet werden.
Hiatus
Dennoch ist die Serie sehr erfolgreich, und das obwohl Sherlock Holmes viele Eigenschaften (wie beispielsweise sein Drogenmissbrauch) und ikonographische Details (der Deerstalker) fehlen, die sonst für Adaptionen üblich sind. Gleichzeitig steckt sie aber voll Referenzen auf den Kanon der Geschichten von Doyle, die auch immer noch wirken, obwohl Sherlock keine historische sondern eine moderne Adaption ist. Die Serie spielt im England des 21. Jahrhunderts und Sherlock Holmes benutzt moderne Technologien um seine Fälle zu lösen. Auch die Visualiserung der Handlung durch Kameraführung und Texteinblendungen ist sehr modern. Allerdings kritisiert Balaka Basu, dass Sherlock viele Aspekte des modernen Lebens in Londen unterschlage und wirke wie eine Vorstellung des 21. Jahrhunderts aus dem 19. Jahrhundert gesehen 27.
Da die Regeln von Fanfiction weniger streng sind, als die von „The Great Game“ 28 und das Bedürfnis der Autoren mehr über die Figuren zu erfahren groß ist 29, gibt es keine Variation von Figurenkonstellation oder Handlung mehr, die zu Sherlock noch nicht erzählt ist: „There‘s not one lonely little kink left unloved in the Sherlock fandom.“ 30. Die Geschichten auf fanfiction.net drehen sich dabei vor allem um die emotionalen Aspekte der Serie. Denn während zwar von allen Figuren immer wieder eine romantische Beziehung zwischen Sherlock und John angedeutet wird, streiten die beiden diese mit einer Vehemenz ab, die es verlockend macht ihre Geschichte anders zu erzählen. Unter dem Hashtag #Johnlock schreiben Fans zu allen Aspekten der Bromance.
*********Spoilers für The Reichenbach Fall
Auch das Ende von The Reichenbach Fall wird in Fanfictions ausgiebig thematisiert. Denn obwohl sich die gesamte Episode nur darum dreht, zu erzählen, wie Sherlock Selbstmord begeht, wissen die Zuschauer zwar am Ende, wie es dazu kam, aber nicht, wie es passieren konnte, dass er doch überleben konnte. Die Fanfiction zu The Reichenbach Fall bleibt allerdings vornehmlich innerhalb der Regeln von The Great Game und damit in der Perspektive von John Watson, der im Gegensatz zu den Zuschauern nicht weiß, dass Sherlock Holmes noch lebt. Die Geschichten erzählen also besonders den Trauerprozess der unterschiedlichen Charaktere.
*********Ende Spoilers für The Reichenbach Fall

Produsage

Die Interaktion von Fans mit ihren Serienhelden oder der Übergang vom passiven Konsum zur aktiven Nutzun markiert einen Kulturellen Shift, den Jenkins als „convergence culture“ 31 bezeichnet: „Convergence involves both a change in the way media is produced and a change in the way media is consumed.“ 32. Der gleiche Prozess wird von Bruns als „produsage“ beschrieben und detailliert ausgeführt. Produsage steht ihm zufolge im direkten Kontrast zur industriellen Produktion und ist durch einschneidende Veränderungen in der Produktionskette von Produzenten über Händler zu Konsumenten geprägt 33. Durch das Internet als Massenmedium verändert sich der Zugang zu Informationen und Produktionsmitteln, es entstehen peer-to-peer Modelle sozialer Organisation und das Teilen von Inhalten wird immer einfacher 34. Konsumenten werden zu Nutzern und können mit den Produzenten auf gleicher Ebene kommunizieren 35. Im Internet werden Nutzer aktiv involviert, die Trennung zwischen Produktion und Nutzung von Inhalten kann immer weniger klar vollzogen werden 36. In diesem „Produktionsprozess“, der in viele kleine Einzelschritte geteilt ist, die jederzeit von allen eingesehen werden können, ist jeder Beitrag gleichwertig. Das Produkt, das am Ende entsteht ist der Allgemeinheit zugänglich 37, oder nach v. Hippel ein „commons“ 38, das ständig in Entwicklung bleibt 39.

Sherlock entsteht als Fanprodukt von Steven Moffat und Mark Gatiss 40. Durch die geschickte Übertragung in die Moderne, schaffen Moffat und Gatiss es die Serie außerhalb des üblichen Fan-Diskurses zu stellen und so sowohl neue Zuschauergruppen zu erschließen, als auch die alten Sherlock-Holmes-Fans, die eigentlich besonders kritisch sind, für sich zu gewinnen 41. Dadurch wurde die Serie für die Forschung besonders interessant, denn es können nicht nur individuelle und gemeinschaftliche Fan-Zugänge, sondern auch unterschiedliche Generationen von Fans analysiert werden 42. Obwohl die Serie explizit ein Fan-Produkt von Moffat und Gatiss ist, stellen sowohl Hills als auch Basu in ihren Analysen fest, dass die beiden als Autoren Fanfiction zwar anerkennen, aber sich und die Serie zumindest in den ersten beiden Staffeln davon distanzieren 43. In der Folge gebe es auch kein „folding text“ (nach Berger/Marlow), „where non-canonical fan wirting can supposedly be folded back into canonical, professional screenwriting.“ 44 Dabei regt die Serie als teil von „media culture permeated with clues and vital knowledge,“ 45 die Fans ganz besonders dazu an über die erzählten Geschichten zu spekulieren.
 

Weiter geht es mit Teil 1 meiner Analyse #sherlockNotDead und Teil 2 Be careful what you post on Tumblr…

  1. (Kelleter) S. 12
  2. (Kelleter) S. 22
  3. (Kelleter) S. 23
  4. (Mittell) S. 97
  5. (Mittell) S. 106
  6. (Mittell) S. 110, (Kelleter) S. 21
  7. (Mittell) S. 111
  8. (Mittell) S. 102
  9. (Mittell) S. 104
  10. Jenkins, H. (2006) Convergence Culture. Where Old and New Media Collide. New York, London. S. 3
  11. (Booth) S. 12
  12. (Booth) S. 1
  13. (Faye) S. 2
  14. (Booth) S. 6
  15. (Jamison) S. 31
  16. (Faye) S. 2f
  17. (Jamison) S. 8
  18. https://www.fanfiction.net/book/ zuletzt eingesehen: 12.05.2014
  19. Im Gegensatz zu Fanfiction, die ausschließlich dadurch definiert wird, dass sie eben von Fans geschrieben wird, imitieren Pastiches auch den Stil ihres Vorbildes.
  20. (Jamison) S. 40
  21. (Jamison) S. 43
  22. Polasek, A. D. (2012) ‘Winning “The Grand Game”. ‘Sherlock’ and the Fragmentation of Fan Discourse’. In: Louisa Ellen Stein & Kristina Busse (Hg.): ‘Sherlock’ and Transmedia Fandom. Essays on the BBC series. Jefferson (North Carolina), London. S. 41–54. Hier: S. 43
  23. Stein, L. E. & Busse, K. (2012) ‘Introduction: The Literary, Televisual and Digital Adventures of the Beloved Detective.’. In: Louisa Ellen Stein & Kristina Busse (Hg.): ‘Sherlock’ and Transmedia Fandom. Essays on the BBC series. Jefferson (North Carolina), London. S. 9–24. Hier: S. 18
  24. Polasek (2012) S. 44
  25. (Jamison) S. 46
  26. https://www.fanfiction.net/tv/ zuletzt eingesehen: 12.05.2014
  27. Basu, B. (2012) ‘‘Sherlock’ and the (Re)Invention of Modernity’. In: Louisa Ellen Stein & Kristina Busse (Hg): ‘Sherlock’ and Transmedia Fandom. Essays on the BBC series. Jefferson (North Carolina), London. S. 196–209. Hier: S. 199
  28. Polasek (2012) S. 49
  29. (Faye) S. 5
  30. (Atlin Merrick) S. 50
  31. Jenkins (2006) S. 3
  32. Jenkins (2006) S. 16
  33. (Bruns) S. 9
  34. (Bruns) S. 13f
  35. (Bruns) S. 14
  36. (Bruns) S. 18
  37. (Bruns) S. 19f
  38. (Bruns) S. 23
  39. (Bruns) S. 22
  40. Adams, G. (2012) Sherlock. The Casebook. Wemding. S. 2f
  41. Polasek (2012) S. 41f
  42. Stein/Busse (2012) S. 16
  43. Hills, M. (2012) ‘”Sherlock’s” Epistemological Economy and the Value of “Fan” Knowledge. How Producer-Fans Play the (Great) Game of Fandom’. In: Louisa Ellen Stein & Kristina Busse (Hg.): ‘Sherlock’ and Transmedia Fandom. Essays on the BBC series. Jefferson (North Carolina), London. S. 27–40. Hier: S. 34f; Basu (2012) S. 209
  44. Hills (2012) S. 35
  45. Hills (2012) S. 31f

Vom Märchenleser zum Serienjunkie (10)

Formen des “Fortsetzens”

Ein Gastvortrag von Daniel Stein über Comics und Formen des Fortsetzens oder Rezeption ist Produktion ist Rezeption.

Üblicherweise wird angenommen, dass die Rezeption und die Produktion von Erzählungen streng voneinander getrennt sind. Tatsächlich sind beide jedoch normalerweise miteinander verbunden.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Populärkultur beginnt mit Horkheimer und Adorno und der kritischen Theorie. Dort werden populäre Produkte als Ideologie, Verdummung, Berieselung und Indoktrination für die Massen gesehen. Die britischen Cultural Studies mit Fiske und Hall sehen populäre Kulturen dagegen als einen Prozess der Rezeption durch Umdeutung für eigene Interessen, während die amerikanischen Cultural Studies, vertreten durch Jenkins, popular culture als participatory culture betrachten. Das Interesse der Fans und ihr Umgang mit den Erzählungen führt zu neuen Inhalten.

Schon seit dem 19. Jahrhundert sind serielle Formen und Populärkultur eng miteinander verbunden. Durch das offene Ende können die Erzählungen beeinflusst werden (feedback loops). Das Rezeptionsverhalten von Fans kann Einfluss auf die Fortführung der Erzählung haben. Auch in der Literaturwissenschaft wird von Chabon, Bachtin und Kristeva zunehmend die generelle Intertextualität von Literatur herausgestellt (“all novels are sequels”).
In seriellen Erzählungen werden alle Faktoren, die Variierungen zulassen (Orte, Figuren, Handlungen…) auch variiert. Dabei wird das Erzählen mit längerer Laufzeit immer schwieriger, weil die Variationsmöglichkeiten zunehmend begrenzt werden. Der Rückgriff auf Varianten ist aber nötig, damit die Geschichte erkennbar bleibt. Das große Interesse an den immer gleichen Inhalten und Erzählstruckturen zeigt auch die große Menge der Spinn-offs und Remakes.

Comics sind multimediale Zeichensysteme. Sie erzählen ihre Handlung in Sequenzen/Panels. Die meisten Comics werden in Form von Serien erzählt. Die ersten Comics erschienen dabei in den 1930er Jahren. 2014 sind Superhelden im Alltag angekommen und überall zu finden. Grund dafür sind die Serialität von Comics und die besonders enge Verflechtung von Produktion und Rezeption. Die Produktion serieller Erzählungen ist dazu auch eine Form der Selbstrezeption, indem verschiedene Möglichkeiten des Handlungsverlaufs durchgespielt werden. Häufig haben Serien dabei auch den Drang sich selbst oder Konkurrenz zu überbieten. Durch die ständige Wiederholung entstehen Klisches, die Anlass zu Parodien oder Spoofs bieten.

In den 60er Jahren werden in Comics Leserbriefe abgedruckt, in denen die Leser alle Aspekte kommentieren, die für die Erzählung der Comics relevant sind. Für die Produzenten entsteht damit eine wichtige Quelle von Feedback. Hinzu kommt, dass diese Leserbriefe Theorien zur Serie produzieren. Dieses Expertenwissen führt wiederum zu neuen Serienformaten, denn auch die gesteigerten Erwartungen müssen erfüllt werden.

Serien-Rezeption ist häufig eine Form von Immersion. Serien prägen die Identität und den Lebensstil ihrer Fans. Sie führt zu (imaginären) Formen von Vergemeinschaftung und institutionalisierter Fan-Kultur.